Ich bremse auch für Wessis

Ich bremse auch für Wessis

Kreatives Schreiben

„Ich bremse auch für Wessis“ ist ein politischer Text. Ein Versuch einer sa-tierischen Stellungname eines Ostdeutschen. Eine Stellungname über die polarisierende Berichterstattung zur Bundestagswahl 2025. Gemeint sind hier gewisse Info-Grafiken, die durchaus einen falschen Eindruck vermitteln können.

Ich bremse auch für Wessis

ins Hochdeutsche übertragen

 

„Hey Horst, sag mal, hab ich’s nun bei deiner Alten verschissen? Weil ich doch Gestern erst mit der Kleinen vom Maxn seinem Bruder schwofen war anstatt mit ihr?“
„Ach, das weiß ich, ehrlich gesagt, nicht so genau. Auch wir haben grad dicke Luft zu hause. Das kann ich dir aber sagen. Und meine Fersen tun mir sowas von weh du, weil die doofe Kuh mir mal wieder nix gönnen kann und mir gestern erst vor Wut mit der Sackkarre hinten rein gerauscht ist. Och nee du, dieser Schmerz hämmert mir noch mein Hirn aus dem Kopf.“
„Hast du denn wenigstens die Frau Doktor Helga angerufen, damit sie dir etwas dagegen spritzen kann und weil du dann doch immer diese Stress-Quaddeln von den Schmerzattacken bekommst?“
„Nein, soweit war ich mit dem Kopf noch nicht. Da war nämlich noch zu viel vom Tanzabend im Blut und schwummerich vom Vorabend war mir auch noch.“
„Ohje.“

„Ja. Aber sag mal, hast du mir das Tannenzäpfle-Bier vom Globus mitgebracht?“ Ich brauche nämlich dringend noch nen Drehwurm für morgen, weil dann Zahltag ist. Die Stütze soll morgen überwiesen werden, und auf meinem Konto schauts momentan aus wie in einer nach nem Sandsturm leergefegten Wüste.“
„Nein habe ich nicht. Es ist doch aber auch erst 11.30 Uhr. Die strahlende Sonne zeigt sich seit Wochen zum ersten Mal wieder hoch oben am wolkenlosen Himmel. Und die Glückszahlen sind noch nicht durch den Nachrichten-Ticker gerauscht. Und es gibt nachher noch Froschschenkel aus dem Eisfach. Die sind mir erst kürzlich als Angebot in den Hackenporsche hinein gehüpft und haben mich natürlich vorher nicht gefragt.“
„Igitt, nee! Das kannst du alleine essen. Ich bin doch kein Franzmann, auch wenn ich noch allzugut weiß, wie man es nem anderen auf Französisch macht.“

„Oh, du alter Lüstling!“

„Ich? Ähm nicht wirklich. Aber als wir damals als Jungspundies im Segen von Honecker mit der ganzen Abschlussklasse von der Berufsschule auf einem Ausflug in Schnarrtanne gewesen sind, da haben wir die Klassen-Unke als Aufpasser vor die Tür unserer Hütte gesetzt und haben dann miteinander Flaschendrehen für Erwachsene gespielt.
Also ich meine, wir waren ja alle vom Alter her schon Achtzehn.
Jedenfalls als ich dann endlich drangekommen bin, haben sie mich nackig gemacht und zur Belustigung der Weiber in den Lostopf gesteckt. Und dann haben sie mich in meinem Adamskostüm mit ihren grabschenden Fingern überall betatscht und begrabbelt.“
„Und?“
„Na nichts und! Ich habe nen Ständer bekommen und eine von den Mädels hat mir dann einen runtergeholt.“
„Uh …“
„Jahaaa, davon träume ich heute noch, wenn ich keinen mehr hochbekomme. Meine Alte lässt mich ja immer nur sonntags vor der Sportschau über sich drüber rutschen“
„Deine Alte oder meine Alter oder wie nun?“
„Ist das denn wichtig auf unsere alten Tage?“
„Hmmm …“

—————–

„Hier, aber sag mal, hast du schon gehört, dass der Helga ihr Mann erst neulich wieder einen Hoax losgetreten hat?“
„Äh, was bitteschön?“
„Einen Hoax.“
„Was ist denn das? Das habe ich ja noch nie gehört.“
„Na der hat doch dem alten Bürgermeister per digitaler Postwurfsendung mittels einer Virulenzia für den Computer verklickert, dass dem die Nase abfallen würde oder gar schlimmeres, wenn er noch einmal kandidieren würde, ohne sich vorher den Segen von der Helga ihrem Mann und seinen Leuten von der Werkstatt schräg gegenüber vom Becker Menzl abzuholen.“
„Ach, und das stimmt tatsächlich?“
„Nein, natürlich nicht! Es war ja ein Hoax.“

 „Aha. …
Aber ist denn der Helga ihr Mann nicht einer der Guten? Ein Guter unter den Besten? Und der will doch eigentlich nur Gutes für unsere Dorfgemeinschaft oder? So wie der sich hier für das Leben in der Gemeinschaft unserer freien Bürger engagiert?
Jaaaa, seine Jungs sind manches Mal ein bisschen forsch unterwegs, aber die würden unserer einer doch kein Haar krümmen, denn wir gehören doch sozusagen durch unsere Alte zu deren Familie, oder? Und die schreibt doch der Mann von der Helga groß, größer, am größesten, so konservativ wie der ist. Oder?“

 „Findest du?“

„Nicht? …
Naja, jedenfalls liegt er mir ständig in den Ohren, dass ich meine, äh, unsere, Alte wieder mehr zum Herd hinzitieren soll, weil er eben meint, mir würde das nicht stehen, also ich meine die Arbeit in der Küche. Ich sollte, seiner Meinung nach, doch lieber zu seinen Kumpels in die Werkstatt kommen, um mit ihnen an den Maschinen zu schrauben und gemeinsam dort abzuhängen.“

„Äh, aber das ist doch eigentlich gar nicht dein Ding, in mit Motorenöl verschmierten Klamotten herumzuhängen, die du nie wieder sauber bekommst und über Mechanik und nackte Weiber und Sex und Pornos und über Probleme zu Hause oder über Politik zu philosophieren. Oder?
Du komponierst doch lieber in deiner Küche, so dass du den Teig vom Kuchen so harmonisch wie möglich kreierst, damit alle glücklich und zufrieden und satt davon werden.
Oder sollte ich mich in dir täuschen?
Am Ende wirst du dich noch – so wie die Mechaniker-Jungs, wenn ihr Boss sie mit Worten und Stoff dazu ermutigt – mit ner sprichwörtlichen Kettensäge aufmachen und die Leute im Dorf in ihrer freien Meinungsäußerung bedrohen wollen?
Das kann ich mir, ehrlich gesagt, bei dir gar nicht vorstellen. Und ich glaube, ich kenne dich schon lange genug, um mir darüber eine Meinung bilden zu können. Also einige Jahre jedenfalls, will ich meinen.“

„Naja, ach, ich weiß auch nicht so recht.
Ich lasse ihn jedenfalls seinen Sermon reden und mache eben mein Ding weiter. Solange es jedenfalls geht und ich nicht irgendwann Gefahr laufe, auf seiner Abschussliste zu landen. Und ich glaube nicht, dass es besonders ratsam wäre, da drauf zu stehen.
So ein lieber Bester ist der nämlich gar nicht, wie er immer tut. Ich glaube, das ist alles nur Fassade. Das sage ich dir jetzt mal im Vertrauen unter uns. Der kann nämlich auch noch ganz anders, wie ich es neulich über Buschfunk der Gerüchteküche gehört habe. Da gebe ich dir mein Ehrenwort drauf und noch nen Brief und nen Siegel mit dazu.“

„Und was sollen wir jetzt deiner Meinung nach machen? Den werden wir hier im Ort doch nie wieder los. Der hat sich hier doch längst eingenistet wie ein wucherndes Geschwür in unserer schönen Dorfgemeinschaft und droht unter der Hand den Leuten, die sich nicht seinem Willen und seiner Meinung fügen wollen. Und es ist auch längst kein Geheimnis mehr, wie der drauf ist, wenn er blau ist und braune Scheiße labert.“

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 „Übrigens haben die neulich einen Toten aus der Torfgrube im Wald geborgen. Der war völlig unbekleidet und hatte auch gar keine Papiere bei sich, sagen sie. Und irgendein Witzbold hat dem dann noch nen Spruch mit roter Farbe auf den Körper gesprüht.“
„So? Was denn für einen?“
„Na, der Buschfunkt meint, das da drauf zu lesen stand: ‚Ich bremse auch für Wessis‘“
„Oh“
„Und dann habe ich gehört, dass sie der Helga ihren Mann zum Verhör abgeführt haben und ihm im Ermittlungseifer damit gedroht haben, dass er mit Karacho in den Bau einfahren wird, wenn er nicht gesteht und es dennoch zur ordentlichen Verhandlung vor Gericht kommt.“

„Aber wer soll dem denn das Handwerk legen? Die ortsansässige Justiz ist doch auch nur befangen, wenn du es dir recht überlegst. Befangen von der Jahre- und Jahrzehntelangen Unterwanderung durch die Getreuen vom Guten, dem Mann von der Helga.
Oder etwa nicht?
Wenn wir mal ganz ehrlich miteinander sind und realistisch an die Sache herangehen, hat der doch längst den Dolch hinterm Rücken gezückt und will mit seinen Gefolgsleuten allerseits an die Macht.“
„So wie Ehlendiels Erben? Oder wie hießen die denn gleich noch mal, in diesem einem Kinofilm von damals?“
„Nein! Eher wie ehlentitäre Bürger des Landes.“
„Ach, keine Ahnung von nichts ich habe. Ist mir aber letzten Endes auch egal, solange sie mich nicht weiter belästigen in unserem kleinen Paradies und mich und dich und unsere Alte in Ruhe lassen, ist doch alles in Ordnung? Oder was meinst du dazu?“
„Naja, aber wenn die dann am Ende auch nicht mehr für uns bremsen? Für uns armen, alten Ossis aus der wohlmeinenden Nachbarschaft? Dann können wir nur noch Gute Nacht sagen und uns zur letzten Ruhe betten und einpacken. Dann schmelzen die letzten Barrieren zwischen Himmel und Höllenschlund und nichts bleibt mehr so, wie es mal war.“

„Ohje. … Komm, lass uns lieber über was anderes reden. Das macht mich sonst noch ganz depressiv. Und ich habe auch schon wieder Druck.
Lass uns im Bett unter der Decke kuscheln und hol deine Alte mit dazu! Dann kann ich wieder Glückshormone sammeln.“
„Genau! Scheiß auf die Welt da draußen, wir haben unseren eigenen Mikrokosmos hier drinnen.“

————

„Ach, weißt du noch?“
„Nö, was denn?“
„Na als du der Helga ihrem Mann die Fresse poliert hast, und er am Ende im Gesicht so blau ausgesehen hat, wie seine Kumpane eine braune Gesinnung haben, wenn die mal wieder das Dorf mit ihren Parolen und Pöbeleien drangsaliert haben.“
„Ach ja, das waren noch Zeiten. Nicht schön, hat aber Spaß gemacht, damals, dieser Socke endlich mal ordentlich die Meinung zu geigen. Auch wenns uns am Ende gar nix gebracht hat außer einer gebrochenen Nase und gehörige Prellungen am ganzen Körper.“
„Wieso?“
„Na, die Domspatzen pfeifen es doch längst von den Wolkendächern.“
„Öhm, was denn?“
„Das wir die Bösen sind. Wir die dummen Ossis, die von der Stütze leben und zu faul sind zum Arbeiten.“
„Wieso das denn?“
„Na, weil wir sie in den Augen der Wessis damals erst salonfähig gemacht und gewählt haben. Wir, die wir ihre teilweise braune Gesinnung damals nicht wahrhaben wollten, weil deren Fassade mit modern blauer Farbe angepinselt war und sich mit einem netten Lächeln aus der Nachbarschaft auf den Plakaten präsentierte.“
„Nee, du vielleicht, aber ich nicht. Ich war immer gegen diese Brut und wollte rein gar nix mit deren Machenschaften zu tun haben. Aber jetzt ist der Drops eh gelutscht.“
„Ja, jetzt ist er gelutscht“
„Jetzt haben sie wirklich, aber auch wirklich alle Straßen, alle Häuser, alle Spielplätze und Kindergärten und Schulen, alle Gemeinden, Dörfer, Orte und Städte, ja sogar alle Landstriche und Wälder und Seen und so mit ihrer blauen Farbe übertüncht und sind auch noch stolz drauf. Jetzt brauchen die Nachrichten-Heinis die Statistiken nicht mehr manipulieren. Denn es gibt nix mehr zu polarisieren. Iss eh nur noch alles ein blauer Einheitsbrei.“
„Ach, du meinst, wir waren damals gar keine homogenen Ostdeutschen?“
„Nein.“
„Aber man wollte, dass es so ausschaut?“
„Ja.“
„Und uns zum Sündenbock abstempeln und irgendwann auch zum Feindbild?“
„Ja.“
„Und warum interessiert uns das jetzt noch?“
„Weil die dasselbe nun auch noch hier im himmlischen Paradies abziehen wollen. Und dagegen müssen wir jetzt was tun!“
„Aha.“

 

© CRSK, LE, 03/2025

Hunger

Hunger

Kreatives Schreiben

Hunger ist die Vertextlichung eines Traumes, den ich heute morgen gehabt habe. Er erzählt von einem Gefühl meiner Kindertage.

Hunger

Lynn war wieder sieben Jahre alt und fühlte sich vor freudiger Erregung darüber, was er alles zu berichten hatte, fast so, als ob sich die Worte in ihm so wie früher in seiner Lisa bis zum Bersten angestaut und aufgeplustert hätten und nur darauf warteten seiner Lisa und dem Ruprecht, auf dessen Schoß er beziehungsweise sie wieder gesessen war, die Füße vollzukotzen.
Seiner Lisa war schon speiübel vom Hoppe-hoppe-Reiter-Spiel, dass der Ruprecht früher immer gern mit ihr gespielt hatte, wenn er in der Laune dazu gewesen war.

Und so kam es, wie es kommen musste.

Lynn redete und redete und erbrach dabei seine Worte im Überschwall der erregten Gefühle und bemerkte eben nicht, dass er nur nach der Aufmerksamkeit seiner (geistig) abwesenden Mutter gierte.
Ihm war schon gänzlich blümerant zumute, und sein Wortschwall wurde nun zunehmend von einem immer penetranter werdenden Schluckauf unterbrochen, so dass Lisa so bekotzt, wie sie sich fühlte, dazu nur meinte, dass die Mama an sie beide denken, aber im selben Augenblick den Ruprecht in Gedanken küssen würde.

Als dann am Ende das Hoppe-Hoppe-Reiter-Spiel auf Ruprechts Schoß in Lynns Traum immer wilder und wilder zu werden drohte, riss sein Redeschwall plötzlich ab und zerbrach die Wort- und Assoziationsketten seiner Gedanken in sinnlose Fett- und Magerworte oder auch in Fressmaschinen und mehr oder weniger nahrhafte Füllungen der Wortfetzen.

Schließlich weinte Lisa dem Ruprecht die Ohren voll, weil er ihr zu ruppig gewesen war und ihr dabei das Sonntagskleid zerknittert und beschmutzt hatte, dass sie zu diversen Anlässen immer anziehen musste, obwohl sie es damals gehasst hatte. Dabei wusste sie doch, dass Ruprecht nur ihr bestes wollte. So wie früher, wenn sie sich nach den Armen und den Ohren ihrer Mutter gesehnt hatte und dies nicht möglich gewesen war, weil sie eben anderweitig zu tun gehabt hatte und nicht anwesend gewesen war oder aber erschöpft im Bett gelegen und sich müde vom Leben geschlafen hatte.

Lynn rülpste. Luft hatte sich in seine Magengrube verirrt und weckte ihn nun mit dem Drang nach draußen auf. Es war sechs Uhr am Morgen. Er fühlte sich einsam, und die Nacht hatte ihn hungrig gemacht.

 

© CRSK, LE, 02/2025

Vor dem Aufwachen

Vor dem Aufwachen

Kreatives Schreiben

Vor dem Aufwachen ist ein Text über dem Gabmat. Ein Wesen, was Gaben frisst und und Menschen transformiert. Es ist Lynns Traum.

Vor dem Aufwachen

„Der Gabmat hat noch immer Hunger“, murmelte Lisa ihrem Lynn zu und runzelte die Stirn. „Und wenn du nicht aufpasst, frisst er dir am Ende noch die Haare vom Kopf“, fuhr sie leise fort. Er scheint mir, wie das Feuer in deinem Herzen zu sein, dass das Strandgut deines Lebens vertilgen will, um es schließlich der Asche zu übergeben.“
Lynn sagte nichts und versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen, der seit Tagen schon mal mehr und mal weniger die Stadt einwattiert hatte, so dass ihr Leben nur noch gedämpft zu ihm durchdrang.
„Und wenns doof läuft für dich“, sprach Lisa weiter, so als ob sie die Watte da draußen gar nicht wahrnahm, „dann macht dich der Gabmat naggisch. Naggisch an Leib und Seele. Naggisch im Herzen. Dann bist du irgendwann nur noch als suboptimaler Obstrahent in Obstanz unterwegs und gar nicht mehr als kontinentales Plus.“
Lynn konterte nicht, sondern schwieg weiter. Er schob dem Gabmat noch immer eine Gabe nach der anderen in den Schlund. Ohne Punkt und Komma.
Und Lisa prustete: „Ohne Puschi-Muh und Zuckerguss. Sonst ists vermutlich aus mit der Zuckermaus“
„Ja, ja, ich weiß“, zuckte Lynn mit seinen Schultern. „Dann ist es ebenso. Na und!? Es ist doch sowieso nur ein Traum, dessen Inhalte im nächsten Moment in Schall und Rauch aufgehen werden, oder?“

 

© CRSK, LE, 01/2025

Geburtstag

Geburtstag

Kreatives Schreiben

Der Text „Geburtstag“ berichtet von einem Traum, den Lynn schon als Kind gehabt hat. Einmal mit anderen Kindern, Freunden, Geburtstag feiern.

Geburtstag

Es war fünf Uhr in der Früh. Lynn schlief den Schlaf der Gerechten, und auch die Sonne war noch nicht aufgegangen. Lynn träumte gerade, dass er wieder acht Jahre alt sei und nun mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft durch das Ehebett seiner Eltern toben würde, und das wunderte ihn keineswegs.
Er hatte sich von seiner Familie als Geburtstagsgeschenk eine Party gewünscht, obwohl er in seinem bisherigen jungen Leben an diesen Tagen nie dagewesen war, weil er eben als Ferienkind geboren wurde und die Geburtstage normalerweise lieber bei seiner Großmutter am Meer verbrachte.
Doch heute sollte alles anders sein.
Lynn oder vielmehr seine Mutter hatte die Kinder aus der Nachbarschaft zu ihm nach Hause beordert und nun tobte er mit ihnen zusammen durch die Betten seiner Eltern, aß Kuchen und alberte unbeschwert herum.

Dabei fiel ihm irgendwann auf, dass die Luft über dem Ehebett seiner Eltern durch das Herumtollen zunehmend vom aufgewirbelten Staub geschwängert wurde und dieser schließlich in Flusen-Form, den Fallschirmen einer Pusteblume nicht unähnlich, im gesamten Zimmer herumschwirrte und irgendwann vom Sommerwind durch das weit offenstehende Fenster nach draußen getragen wurde.
Als Lynn dies bemerkte, wurde er plötzlich mux-mäuschen-still und fragte sich, was all die Kinder in der Wohnung seiner Eltern taten, denn er kannte nur eins von ihnen persönlich. Und das war eine Klassenkameradin von ihm, die älteste Tochter eines Arbeitskollegen seines Vaters. So jedenfalls hatte er es vernommen, als sein Vater kürzlich mit seiner Mutter am Abendbrottisch darüber debattiert hatte, warum ausgerechnet sein Sohn dieses Jahr in den großen Ferien nicht zu seiner Oma ans Meer wollte, sondern lieber in der brütenden Hitze der beengenden Kleinstadt verweilte.

Just in diesem Augenblick zupfte ihn die Tochter des Arbeitskollegen seines Vaters am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann spürte Lynn in seiner Bauchnabelgegend ein kribbelndes Gefühl und plötzlich wurde er mit all den anderen Kindern aus der Nachbarschaft von einer unsichtbaren Macht am Nabel seiner Kindheit fortgerissen.
Fort aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Fort aus dem trauten Heim. Fort aus der kleinen Stadt. Hin zum großen Meer. Zum weitläufigen Strand. In mitten des Rhythmus des Wellenrauschens hinein. Mitten hinein in die Freiheit des Abenteuers.
Auch dieses Mal wunderte er sich nicht darüber. Selbst die Fallschirme der ungezählten Flusen-Pusteblumen waren ihm gefolgt und sahen nun vollends nicht mehr wie der heimische Staub unter dem Bett seiner Eltern aus.

Lynn jauchzte vor Glück, denn er fühlte sich geborgen, obwohl ihm klar war, dass er im Wachzustand der Realität seines heranwachsenden Seins nie eine solcher Geburtstagsparty hatte ausgerichtet beziehungsweise ausrichten lassen. Denn dazu hatte es ihm im Kindes- und Jugend- und jungen Erwachsenenalter gänzlich an Freundschaften gemangelt.

Dann berührte schließlich irgendwer sanft seine nackten Schultern und strich mit sanfter Leichtigkeit darüber wie eine Daunenfeder. „Du musst aufstehen, Lynn. Du verpasst sonst noch deinen Zug“, summte ihm eine Stimme ins linke Ohr, schlug Windräder durch seine Gehirnwindungen und purzelte auf der anderen Seite seines Kopfes zum rechten Ohr wieder heraus.
Schläfrig erkannte er in ihr seine Seelenfreundin und lächelte. Es war der Tag der heiligen drei Könige. Er war längst erwachsen geworden und bald würde er sich wieder auf seinen Weg machen, …

 

© CRSK, LE, 01/2025

Bild: KI-generiert mit Leonardo.ai (Hintergrund & Junge in Einzelprompts), die „Fallschirmspringer“ stammen von Pixabay und composed wurde das Bild mit Affinity Publisher.

Der Traum

Der Traum

Kreatives Schreiben

Der Traum ist ein Text über einen Nacht-Traum, den Lynn neulich gehabt hat. Er träumte von der Transformation seines Daseins als Fisch.

Der Traum

„Wenn Jonas aus dem Wal sein Reisegefährt theoretisch hätte aufessen können, um sich endlich aus der Finsternis der Allmacht Gottes zu befreien, so kann ich mich auch gleich selbst verspeisen, um mich zu transformieren“, dachte Lynn, als er eines Nachts mit den großen Fischen im Wasser schwamm und den Mond anblubberte.
Währenddessen sah er sich selbst dabei zu, wie er tatkräftig damit begann, sein Unterbewusstsein vom Fischschwanz an Stück für Stück in nackte Gräten zu verwandeln. Denn die Zeit würde dies letzten Endes sowieso mit ihm anstellen, wenn sie fertig mit ihm gewesen wäre und es ihm nicht vorher gelingen wollte, sich in Liebe zu transformieren.
Dessen war er sich glasklar bewusst. So klar wie die Kloßbrühe seiner Mutter hätte jemals sein können, wenn ihr nicht vorher eben jene Klöße im Wasser auseinandergefallen wären und sich ins Unwohlgefallen einer Mehl-Plürre aufgelöst hätten.
Und dann erwachte Lynn, weil ihm seine Lisa einen nassen Waschlappen ins Gesicht geworfen hatte, und ihm am Ende ein Sonnenstrahl an der Nase kitzelte und er obendrein deshalb noch laut niesen musste.

 

© CRSK, LE, 01/2025

Zur Taverne mit dem Mondlicht in der Laterne

Zur Taverne mit dem Mondlicht in der Laterne

Kreatives Schreiben

Der Text die Taverne mit der Laterne gewährt dem Leser einen spannenden Einblick hinter die Kulissen der Wichtel-Nordpol-Genossenschaft.

Zur Taverne mit dem Mondlicht in der Laterne

Es war Mitten im Oktober, irgendwann kurz vor dem abrupten Ende der Blütezeit des Neo-Kommunismus mittels endgültiger wirtschaftlicher Teilöffnung der Binnenmärkte für den Überseehandel mit dem südlichen Hemisphären-Staaten des Neo-Kapitalismus der Erde 2.0.
Es dauerte noch einige Jahre, bis der vierte Weltkrieg ausbrechen würde. Aber das kommerzielle Auf- und Wettrüsten zwischen den kulturellen Filterblasen hatte längst begonnen.

Die Nordpolgenossenschaft der Wichtel des wiederauflebenden Jul-Kultes der Vorfahren der alten nordischen Völker stand aufgrund des menschengemachten Kommerz-Terrors zunehmend unter dem Hochdruck gewisser personeller, aber auch infrastruktureller Produktionsengpässe. Niemand außer deren Chefetage hatte die Entscheidungsgewalt darüber gehabt, dem nachhaltig Abhilfe verschaffen zu können. Doch aus unerfindlichen Gründen schien diese Chefetage, wie sie nebulös vom allgemeinen Wichtelvolk genannt wurde, sich für handlungsunfähig zu halten.
Der allgemeine Wichtel-Mob vermutete, dass die Nostalgiesucht, der längst vergangenen alten Zeiten des früheren sozialistischen Realismus wegen, schuld daran war. Doch definitiv wissen, tat das an der Basis niemand und darüber zu sprechen, war von den linientreusten neuen Politischen, die der Chefetage besonders nahestanden, unter Strafverfolgung der Plaudersüchtigen offiziell verboten worden.

Und so nahm die Geschichte an einem Dienstagabend in der zeitlosen Stimmung der letzten goldenen Herbsttage im Oktober des hohen Nordens ihren Lauf. Und Väterchen Frost ließ in den Nachtstunden dieser Tage auch schon erste Vorboten des nahen Winters vorauseilen:

„Eyh, Breschnew, Alter …“, grunzte der stämmige Chruschtschow und wischte sich mit seinem muskulösen Handrücken über den Dreitagebart. Doch sein Sitznachbar schnarchte nur laut in die Zipfelmütze hinein, die ihm ins Gesicht gerutscht war, während er mit dem Oberkörper auf der Tischplatte lag.
Der Schankwirt schlurfte herüber und murmelte: „Die Chefetage treibts aber auch gerade echt hart mit euch allen und insbesondere mit euch beiden aus der Mannschaft der Werkstätten. Da iss so gar nix mehr übrig von den früher skandierten Werten, finde ich.“
Chruschtschow blickte auf. Seine Augen wirkten klein, so zugeschwollen wie sie waren, und rote Äderchen überzogen die Augäpfel. Seine Zipfelmütze hing ihm nur noch auf halb acht auf dem kahlen Kopf. Sie muss einmal strahlend rot gewesen sein. Doch diesen Zustand hatte sie schon lange hinter sich gelassen.
„Willste mich verarschn? Werte? Welche Werte denn?“, fuhr er den Wirt lautstark an.
Der Schankwirt zuckte mit den schmalen Schultern, strich sich mit den langgliedrigen Fingern das fettige Haar aus der Stirn und schielte zur Laterne hinauf, die an dem zentralen Deckenbalken der Taverne hing und den Hauptraum in fahles Mondlicht tauchte.
„Naja …“, räusperte er sich, „Ich habe mal daran geglaubt, dass ihr vor dem Herrn alle gleich wärt und uns, äh … euch allen alles gemeinsam gehören würde und ihr euch dafür nicht zu Tode schuften müsstet“.
Chruschtschow grunzte erneut. Dieses Mal um einiges lauter und es schien so, als ob er dabei eine Träne im linken Augenwinkel verdrücken würde. „Das Papier, auf dem sie diese Statuten und deren Pläne ursprünglich geschrieben haben und diese nun seit ungezählten Zeiten alle fünf Jahre wieder beteuernd neu aufsetzen, ist geduldig.“
Und einige Augenblicke später wischte er sich erneut mit dem Handrücken über sein unrasiertes, kantiges Gesicht. „Ich habe Durst. Bring mir noch einen Humpen von deinem Kräuter-Met! Vielleicht sehe ich dann die Zukunft rosiger und einen Sinn in dem, dass wir tagaus und tagein in den Werkstätten der Chefetage schuften …“

Als der Schankwirt mit dem neuen Humpen Met vor seinem Tisch zum Stehen kam, blickte Breschnew verschlafen hoch und murmelte: „Scheiß Sucht nach dem schnöden Mammon! Die Menschen sind einfach nur dumm! Und die alljährlich wiederkehrende Konsumschlacht bringt uns Wichtel an den Rand der möglichen Taktung unseres schier unendlichen Pensums an Fließbandarbeit.“
Chruschtschow verzog seine Miene. Er war sauer: „So viel können wir gar nicht mit unseren Weibern und denen der anderen rammeln, wie es nötig wäre, um genügend Nachwuchs für die noch kommenden Jahrhunderte der Maloche in den Werkstätten heranzuziehen. Dabei bräuchten wir dringend handfeste Verstärkung. In allen Lebenslagen und Bereichen, was die Werkstattarbeit und aber auch das Wirken am heimischen Herd und in den Stallungen der Familie Rudolph angeht.“

Der Schankwirt lachte höhnisch: „Ach ja, die Rudolphs … Habt ihr schon die neusten Gerüchte gehört? Die über Rudolph Junior Nummer Neunundsechzig?“
Breschnew grölte und verteilte dabei eine ordentliche Portion Spucke über den Tisch: „Jawoll-Ja. Der soll, wie ich von meiner Olga erst gestern vernommen habe, ein ganz umtriebiger sein … Ja, ja.“
Dabei grinste Breschnew breit und war plötzlich wieder hell wach. Auch er hatte zugeschwollene, rotgeäderte Augen und sein Allgemeinzustand verhieß eine permanente Überarbeitung in Verbindung mit einem chronischen Schlafmangel.
„Der pfeift der Minna auf ihrem letzten Loch den Marsch der Unzucht mit seinem Decker, hat mir die Olga gestern beim Stelldichein ins Ohr geflüstert“, fuhr Breschnew mit gesenkter Stimmlage fort und wischte sich mit seiner schwieligen Hand über das zerfurchte Gesicht. „Und ich kann euch sagen, meiner Olga scheint allein die Vorstellung davon schon irgendwo gefallen zu haben??!!“, fuhr er fort und rutschte dabei unruhig mit seinem muskulösen Hintern auf der Holzbank hin und her.
„Ich fall‘ vom Glauben ab!“, stöhnte Chruschtschow, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Humpen voller Kräuter-Met. Dabei verschluckte er sich und bekam davon einen ordentlichen Hustenanfall, so dass Breschnew ihm mit seiner grobschlächtigen Hand zwischen die Schulterplätter klopfte.
„Joahr, ich übrigens auch. Meine Olga die überrascht mich da immer wieder. Das kann ich dir sagen … Aber eigentlich iss datt nix für mich. Ich bin da eher konservativ und altmodisch gestrickt und brauche, was das angeht, auch keine fremden Betten und Federn.“

Dann läutete die Turmglocke am großen Weiher Sturm.
Der Schankwirt räusperte sich: „Oh-oh! Eure Pause ist schon zu Ende. Ihr müsst wieder an die Arbeit gehen! Sonst bekommen die Politischen noch Wind davon und ihr dürft wieder zusätzliche Strafpunkte abarbeiten.“
„Diese neuen Emporkömmlinge? Also echt mal …“, schnobte Breschnew wütend auf, obwohl er es aus leidlicher Erfahrung besser wissen müsste.
„Ja, ich weiß, die sind alle nur um die dreihundert Jahre jung und im Vergleich zu uns beiden noch echte Grashüpfer in der Wichtellandschaft. Nur leider haben die, im Gegensatz zu uns, einen guten Draht zur obersten Chefetage und wer weiß, was die denen flüstern würden, wenn sie mehr Wind von unseren kleinen Aufmüpfigkeiten bekämen? Wenn sie es nicht eh schon längst alles wissen und uns deshalb die vielen Extraschichten an Arbeit aufbrummen …“, entgegnete ihm Chruschtschow leise. Dann wuchtete er mühevoll sein Hinterteil von der Bank hoch.

Noch bevor er und Breschnew mit einigem Getöse die Schenke verlassen konnte, legte der Schankwirt ihnen beiden im Vertrauen jeweils eine seiner schmierigen Hände auf ihre Schulter: „Habt ihr eigentlich je die von der Chefetage zu Gesicht bekommen? Also ich meine so ganz persönlich von Angesicht zu Angesicht? Ihr zwei gehört doch längst zum Inventar der Nordpol-Genossenschaft, so alt wie ihr beide schon seid. Oder?“
Chruschtschow wieherte leise los: „Mit Freuden würde ich vom Unglauben abfallen und Breschnew zur Strafe von hinten mit meiner Rute nehmen und dabei auch noch Lust empfinden, wenn ich daran zweifeln täte, dass in der besagten Chefetage nur deshalb ein noch viel betagterer, seniler Rauschebart sitzt, weil die Menschen selbst ihn mit ihrer alljährlichen Zelebration und deren Ritualen drumherum zu dem gemacht haben, was er bis heute ist und das Wichteltum, mit all dem Schaffen Kraft ihrer Vorstellung kreiert haben. Genau deshalb malochen wir uns ja am Ende noch zu Tode und genau deshalb werden unsere Wünsche nach einer sozialgerechten Wichtelgewerkschaft wohl nie erfüllt werden.“
„Aber Psssst … haltet bloß eure Klappen! Sonst muss ich am Ende noch zur Strafe bis in alle Ewigkeit den Abort des Alten putzen.“

Der Schankwirt lachte laut auf und klopfte seinem Schankgast extra stark auf die Schulter, während er hinter dem Rücken der beiden sehr offenherzigen Kompagnons zur Laterne hinauf schielte, die am Deckenbalken seiner Schankstube hing. Verwaschen murmelte er: „Ach, wenn es doch nur die Jungspunde wären …“

Und als er schließlich die Türen der Taverne hinter den beiden ältesten Wichteln des Nordpols schloss, kletterte ein Winzling von einem Mann eifrig aus der Laterne unter dem Deckenbalken und morste mit seinem Mondlicht eine eilige Depeche gen neunzigsten Breitengrad des Nordpolreiches, um sich seine Prämie und die Verlängerung der Ausschanklizenz seines Herbergsvaters um mindestens ein weiteres Jahrhundert bei der oberen Chefetage zu sichern.
„Hervorragende Arbeit, mein Großer!“ quickte er mit seiner hohen Stimme zum Schankwirt herüber. „Wir müssen mit dem Takt der Menschenzeit gehen. Sonst landen wir am Ende noch alle am Südpol bei den Pängus. Und wenn dann der Alte gänzlich senil wird, weil sich der Glauben der Menschheit an uns nach und nach überholt hat und sie unserer irgendwann überdrüssig werden, na dann Prost Mahlzeit! …“

 

Nachwort:

Es ist der Dreizehnte, acht Tage vor dem ehemaligen Julfest der nördlichsten Völker der nördlichen Hemisphäre, im Jahre Siebenundsiebzig des dritten Jahrtausens des ehemaligen Gottvaters der frühen Christenheit. Ich, der zu jener Zeit älteste unter den Wichteln meiner Generation sitze hier im Exil des Vergessens.
Von der ehemaligen Chefetage der Nordpolgenossenschaft in die Hemisphäre des Südpols verbannt, existiere ich nur noch als Schatten meiner selbst zusammen mit den wenigen übrig gebliebenen Pängus im Auffanglager der sich überlebten und insgesamt ad acta gelegten Sagen- und Mythen- sowie Märchen- und Fantasiegestalten.

Und nun sitze ich, der früher Chruschtschow genannt wurde – ein längst verwitweter Wichtel – hier in meiner Filterblase inmitten des Auffanglagers und schreibe an meinen Memoiren. In der Hoffnung, ein Mensch möge diese irgendwann finden, um mit ihrer Hilfe das wahre sich Erinnern wieder zu erlernen, um so vielleicht erneut einen Funken der Hoffnung unter die Reste der Menschheit sähen zu können.

Denn die letzte Heißperiode dieser Welt dauert noch immer an. Die Erde ist mit den verflossenen Jahrhunderten in extreme Zustände geraten, und die Menschheit hat sich dabei fast selbst ausgerottet. Wirtschaftsordnungen wie der Kapitalismus oder der Kommunismus und der Sozialismus haben sich überholt, so auch ihre damals verzweifelt angegangen Versuche der Neo-Wiedergeburten.
Es gibt keine Staatenstrukturen mehr und auch keine Demokratien oder gar Diktaturen und Monarchien.

Die wenigen noch übrig gebliebenen Menschen haben sich ihrer Urwurzeln besonnen und pflegen entweder nur noch kleine, untereinander zersiedelte Sippschaften oder ziehen als kriegerische Horden durch die Einöden dieser Welt.
Den alten Religionen haben sie mit der endlosen Reihe an vergangenen Jahrhunderten nacheinander abgeschworen. Und deren Götter haben sie längst vergessen.
Inzwischen glauben sie nur noch an die ehemaligen Glanzzeiten der vor sich hin rottenden Relikte einer ehemals hochtechnisierten Welt. Denn es geht im verwaisten Volksmund die Mär um, dass man diese Relikte zum Leben erwecken könnte, wenn man gewisse kryptische Symbole an den verwitternden Mauern zu Alt-York irgendwo auf einem der Nordkontinente entschlüsseln und die verlorengegangenen Aggregate wiederentdecken würde, um sie dann irgendwie erneut zum Leben zu erwecken.
Doch nur vereinzelte Ur-Ur-Ur-Ur-…-Urahnen der ehemaligen Ingenieure von damals glaubten noch ernsthaft an diese Mär und hüteten ihre indifferenten Vorausahnungen vom Wissen zu dieser Sache wie einen geheimen Gral vor der Allgemeinheit der Sippen und Horden. 

Ich selbst, Chruschtschow, weiß auch nur darüber Bescheid, weil ich mich jedes Jahr zum Julfest nachts aus dem besagten Auffanglager schleiche und die alte Tradition meiner ehemaligen Chefetage wieder aufleben lasse. Dann suche ich heimlich die nahegelegenen Lagerfeuer der vereinzelten Horden sowie die verfallen Kamine der alten Siedlungen, in denen die wenigen Sippschaften wieder hausen, heim und schaue den Ur-Ur-Ur-Ur-…-Urahnen beim Schlafen zu und höre ihre Träume.

 

© CRSK, LE, 10/2024