Kinder des Sturmes – Adaption I

*Aus der Sicht der Schwester*
Ich kann dir sagen, es ist klapperkalt draußen und der Wind pfeift um die letzte spindeldürre Strohpuppe auf den Äckern der Uckermark, die eher einem zerschlissenen hohlen Kreuz gleicht als einer Puppe, welche die hungernden vertriebenen Seelen der nun von uns verwaisten Landstriche aus dem Osten verscheuchen soll.
Meine Hände sind klamm vom letzten launischen Wettertreiben aus schweren Schneeflocken dieses nur langsam weichenden Winters. Nass bleiben sie in meinen zerstörten Haaren und meiner viel zu großen zerschlissenen Kutte hängen. Diese hat einmal meinem Vater gehört. Einem Mann, den ich kaum kenne, weil er im Herbst 1939 seinen Marschbefehl in den Krieg erhalten hatte.
Die zottelige Töle des ansässigen Bauern am Ortsrand dieser einen Kleinstadt in der Weite der Uckermark kläfft in einer Tour uns heimatlose Flüchtlinge an.
Ich bin eine von den vielen – nun Neubürger genannten – in diesem Landstrich, wie es inzwischen im offiziellen Sprachgebrauch der russischen Siegermacht heißt. Gerade mal acht Jahre alt. Meine Mutter steht – einer zerknüllt leeren Papiertüte gleich – neben mir und hält sich kraftlos an meiner Hand fest. Mit der Hand, die noch vor nicht allzu langer Zeit meinen dreieinhalbjährigen Bruder hätte festhalten sollen. Und doch auf dem Bahnhof von Konitz hatte loslassen müssen, weil ich sonst unter die Räder des am menschenüberfüllten Bahnsteig einfahrenden Zuges gedrückt worden wäre.
Ich bin ein kleines Mädchen, dass nicht weiß, wo ihr Bruder nun ist und ob dieser noch lebt. Ich bin ein Kind, dass sich schuldig fühlt, weil ihm die Großmutter immer ihre harten Brotkanten zugesteckt hatte, bevor es leider zu jung an Jahren mit ansehen musste, wie eben jene alte, gebrechliche Frau während eines Schneesturmes an Erschöpfung und Unterkühlung auf dem Pferdekarren einer anderen mitvertriebenen Familie verstarb. Ich bin ein Mädchen, dass mit anhören musste, wie ihre Mutter einen betrunken versprengten Soldaten an irgendeinem der zahllosen und überstürzt aufgegebenen Kontrollposten hatte über sich ergehen lassen müssen, nur damit sie und ihr Kind, sprich ich, am Ende hatten überleben können.
Ich nehme wahr, wie der ortsansässige Bauer den Hahn seiner alten Schrotflinte spannt und höre, wie sein Weib ihren Unmut darüber laut äußert, dass es uns, meine Mutter und mich und noch ein paar andere verlorene Seelen unseres ehemaligen Tracks aus dem Osten, am Ende als offizielle Umsiedler aus dem Flüchtlingslager auf ihren Hof verschlagen hat und wir ihnen von der nun sowjetischen Militärverwaltung der nahen Kreisstadt unterkunftstechnisch zugewiesen worden sind.
Ich habe Hunger. Und Hunger ist mein ständiger Begleiter. Doch das Feld am Wegesrand liegt unbestellt zu meinen Füßen, und die im vergangenen Herbst noch vom nun gefallenen Sohn des Bauern umgebrochene Erde ist nur teilweise vom nassen Schnee bedeckt.
Schwer sieht die Muttererde aus, wie kackbraune kleine bis mittelgroße Schollen, die sich nicht mehr unter dem letzten Schnee des zurückweichenden Winters verstecken können. Und ich male mir aus, wie es wohl wäre, jetzt eine Feldmaus zu sein, die in ihrem unterirdischen Nest immer noch den Winterschlaf hält, um das wiedererwachen des Lebens abzuwarten.
Meine Kinderseele ist wund, doch ich höre mich mit meiner zaghaften Stimme sagen, dass wir etwas von Landwirtschaft verstehen, vor nicht allzu langer Zeit selbst auf einem Gutshof im fernen Osten mitgearbeitet haben und für Essen und Unterkunft auf dem Hof des mürrischen Bauern helfen können. Meine Mutter nickt dazu bekräftigend mit ihrem Kopf, während die anderen zustimmend miteinander murmeln.
Das Weib des Bauern umfasst meine schmalen Schultern mit ihren schwieligen Händen und prüft schließlich meine Zähne, zerstöbert mein langes Haar und ertastet meine körperliche Statur unter der viel zu großen Kutte.
Ihr Gatte murrt unwirsch, als ihm der sowjetische Soldat mit dem Maschinengewehr vor der Brust von der offenen Ladefläche des LKWs herab im gebrochenen Kauderwelsch aus Deutsch und Russisch zu verstehen gibt, dass das ein unmissverständlicher Befehl von Seiten seines Vorgesetzten sei, damit der Hof in den Diensten der siegreichen Befreier und des zukünftig großen Bruderstaates weiterbetrieben werden könne, um die Soldaten auf dem nahegelegenen Militärstützpunkt fern der Heimat mit Essen zu versorgen.
Mein kleines Mädchenherz pocht mir bis zum Hals und ich kann das Maschinenöl an den Kleidern des Uniformierten riechen. Ich verstehe nur die Hälfte von dem was er sagt, doch ich begreife sehr wohl, dass er uns gerade auf mittelfristige Sicht, das Überleben gesichert hat.
© CRSK, LE, 04/2025
Angaben zum Bild:
Kinder des Sturms. KI-generiert mit Leoanard.ai und composed mit Affinity Publisher.