Zur Taverne mit dem Mondlicht in der Laterne

Zur Taverne mit dem Mondlicht in der Laterne

Kreatives Schreiben

Der Text die Taverne mit der Laterne gewährt dem Leser einen spannenden Einblick hinter die Kulissen der Wichtel-Nordpol-Genossenschaft.

Zur Taverne mit dem Mondlicht in der Laterne

Es war Mitten im Oktober, irgendwann kurz vor dem abrupten Ende der Blütezeit des Neo-Kommunismus mittels endgültiger wirtschaftlicher Teilöffnung der Binnenmärkte für den Überseehandel mit dem südlichen Hemisphären-Staaten des Neo-Kapitalismus der Erde 2.0.
Es dauerte noch einige Jahre, bis der vierte Weltkrieg ausbrechen würde. Aber das kommerzielle Auf- und Wettrüsten zwischen den kulturellen Filterblasen hatte längst begonnen.

Die Nordpolgenossenschaft der Wichtel des wiederauflebenden Jul-Kultes der Vorfahren der alten nordischen Völker stand aufgrund des menschengemachten Kommerz-Terrors zunehmend unter dem Hochdruck gewisser personeller, aber auch infrastruktureller Produktionsengpässe. Niemand außer deren Chefetage hatte die Entscheidungsgewalt darüber gehabt, dem nachhaltig Abhilfe verschaffen zu können. Doch aus unerfindlichen Gründen schien diese Chefetage, wie sie nebulös vom allgemeinen Wichtelvolk genannt wurde, sich für handlungsunfähig zu halten.
Der allgemeine Wichtel-Mob vermutete, dass die Nostalgiesucht, der längst vergangenen alten Zeiten des früheren sozialistischen Realismus wegen, schuld daran war. Doch definitiv wissen, tat das an der Basis niemand und darüber zu sprechen, war von den linientreusten neuen Politischen, die der Chefetage besonders nahestanden, unter Strafverfolgung der Plaudersüchtigen offiziell verboten worden.

Und so nahm die Geschichte an einem Dienstagabend in der zeitlosen Stimmung der letzten goldenen Herbsttage im Oktober des hohen Nordens ihren Lauf. Und Väterchen Frost ließ in den Nachtstunden dieser Tage auch schon erste Vorboten des nahen Winters vorauseilen:

„Eyh, Breschnew, Alter …“, grunzte der stämmige Chruschtschow und wischte sich mit seinem muskulösen Handrücken über den Dreitagebart. Doch sein Sitznachbar schnarchte nur laut in die Zipfelmütze hinein, die ihm ins Gesicht gerutscht war, während er mit dem Oberkörper auf der Tischplatte lag.
Der Schankwirt schlurfte herüber und murmelte: „Die Chefetage treibts aber auch gerade echt hart mit euch allen und insbesondere mit euch beiden aus der Mannschaft der Werkstätten. Da iss so gar nix mehr übrig von den früher skandierten Werten, finde ich.“
Chruschtschow blickte auf. Seine Augen wirkten klein, so zugeschwollen wie sie waren, und rote Äderchen überzogen die Augäpfel. Seine Zipfelmütze hing ihm nur noch auf halb acht auf dem kahlen Kopf. Sie muss einmal strahlend rot gewesen sein. Doch diesen Zustand hatte sie schon lange hinter sich gelassen.
„Willste mich verarschn? Werte? Welche Werte denn?“, fuhr er den Wirt lautstark an.
Der Schankwirt zuckte mit den schmalen Schultern, strich sich mit den langgliedrigen Fingern das fettige Haar aus der Stirn und schielte zur Laterne hinauf, die an dem zentralen Deckenbalken der Taverne hing und den Hauptraum in fahles Mondlicht tauchte.
„Naja …“, räusperte er sich, „Ich habe mal daran geglaubt, dass ihr vor dem Herrn alle gleich wärt und uns, äh … euch allen alles gemeinsam gehören würde und ihr euch dafür nicht zu Tode schuften müsstet“.
Chruschtschow grunzte erneut. Dieses Mal um einiges lauter und es schien so, als ob er dabei eine Träne im linken Augenwinkel verdrücken würde. „Das Papier, auf dem sie diese Statuten und deren Pläne ursprünglich geschrieben haben und diese nun seit ungezählten Zeiten alle fünf Jahre wieder beteuernd neu aufsetzen, ist geduldig.“
Und einige Augenblicke später wischte er sich erneut mit dem Handrücken über sein unrasiertes, kantiges Gesicht. „Ich habe Durst. Bring mir noch einen Humpen von deinem Kräuter-Met! Vielleicht sehe ich dann die Zukunft rosiger und einen Sinn in dem, dass wir tagaus und tagein in den Werkstätten der Chefetage schuften …“

Als der Schankwirt mit dem neuen Humpen Met vor seinem Tisch zum Stehen kam, blickte Breschnew verschlafen hoch und murmelte: „Scheiß Sucht nach dem schnöden Mammon! Die Menschen sind einfach nur dumm! Und die alljährlich wiederkehrende Konsumschlacht bringt uns Wichtel an den Rand der möglichen Taktung unseres schier unendlichen Pensums an Fließbandarbeit.“
Chruschtschow verzog seine Miene. Er war sauer: „So viel können wir gar nicht mit unseren Weibern und denen der anderen rammeln, wie es nötig wäre, um genügend Nachwuchs für die noch kommenden Jahrhunderte der Maloche in den Werkstätten heranzuziehen. Dabei bräuchten wir dringend handfeste Verstärkung. In allen Lebenslagen und Bereichen, was die Werkstattarbeit und aber auch das Wirken am heimischen Herd und in den Stallungen der Familie Rudolph angeht.“

Der Schankwirt lachte höhnisch: „Ach ja, die Rudolphs … Habt ihr schon die neusten Gerüchte gehört? Die über Rudolph Junior Nummer Neunundsechzig?“
Breschnew grölte und verteilte dabei eine ordentliche Portion Spucke über den Tisch: „Jawoll-Ja. Der soll, wie ich von meiner Olga erst gestern vernommen habe, ein ganz umtriebiger sein … Ja, ja.“
Dabei grinste Breschnew breit und war plötzlich wieder hell wach. Auch er hatte zugeschwollene, rotgeäderte Augen und sein Allgemeinzustand verhieß eine permanente Überarbeitung in Verbindung mit einem chronischen Schlafmangel.
„Der pfeift der Minna auf ihrem letzten Loch den Marsch der Unzucht mit seinem Decker, hat mir die Olga gestern beim Stelldichein ins Ohr geflüstert“, fuhr Breschnew mit gesenkter Stimmlage fort und wischte sich mit seiner schwieligen Hand über das zerfurchte Gesicht. „Und ich kann euch sagen, meiner Olga scheint allein die Vorstellung davon schon irgendwo gefallen zu haben??!!“, fuhr er fort und rutschte dabei unruhig mit seinem muskulösen Hintern auf der Holzbank hin und her.
„Ich fall‘ vom Glauben ab!“, stöhnte Chruschtschow, nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Humpen voller Kräuter-Met. Dabei verschluckte er sich und bekam davon einen ordentlichen Hustenanfall, so dass Breschnew ihm mit seiner grobschlächtigen Hand zwischen die Schulterplätter klopfte.
„Joahr, ich übrigens auch. Meine Olga die überrascht mich da immer wieder. Das kann ich dir sagen … Aber eigentlich iss datt nix für mich. Ich bin da eher konservativ und altmodisch gestrickt und brauche, was das angeht, auch keine fremden Betten und Federn.“

Dann läutete die Turmglocke am großen Weiher Sturm.
Der Schankwirt räusperte sich: „Oh-oh! Eure Pause ist schon zu Ende. Ihr müsst wieder an die Arbeit gehen! Sonst bekommen die Politischen noch Wind davon und ihr dürft wieder zusätzliche Strafpunkte abarbeiten.“
„Diese neuen Emporkömmlinge? Also echt mal …“, schnobte Breschnew wütend auf, obwohl er es aus leidlicher Erfahrung besser wissen müsste.
„Ja, ich weiß, die sind alle nur um die dreihundert Jahre jung und im Vergleich zu uns beiden noch echte Grashüpfer in der Wichtellandschaft. Nur leider haben die, im Gegensatz zu uns, einen guten Draht zur obersten Chefetage und wer weiß, was die denen flüstern würden, wenn sie mehr Wind von unseren kleinen Aufmüpfigkeiten bekämen? Wenn sie es nicht eh schon längst alles wissen und uns deshalb die vielen Extraschichten an Arbeit aufbrummen …“, entgegnete ihm Chruschtschow leise. Dann wuchtete er mühevoll sein Hinterteil von der Bank hoch.

Noch bevor er und Breschnew mit einigem Getöse die Schenke verlassen konnte, legte der Schankwirt ihnen beiden im Vertrauen jeweils eine seiner schmierigen Hände auf ihre Schulter: „Habt ihr eigentlich je die von der Chefetage zu Gesicht bekommen? Also ich meine so ganz persönlich von Angesicht zu Angesicht? Ihr zwei gehört doch längst zum Inventar der Nordpol-Genossenschaft, so alt wie ihr beide schon seid. Oder?“
Chruschtschow wieherte leise los: „Mit Freuden würde ich vom Unglauben abfallen und Breschnew zur Strafe von hinten mit meiner Rute nehmen und dabei auch noch Lust empfinden, wenn ich daran zweifeln täte, dass in der besagten Chefetage nur deshalb ein noch viel betagterer, seniler Rauschebart sitzt, weil die Menschen selbst ihn mit ihrer alljährlichen Zelebration und deren Ritualen drumherum zu dem gemacht haben, was er bis heute ist und das Wichteltum, mit all dem Schaffen Kraft ihrer Vorstellung kreiert haben. Genau deshalb malochen wir uns ja am Ende noch zu Tode und genau deshalb werden unsere Wünsche nach einer sozialgerechten Wichtelgewerkschaft wohl nie erfüllt werden.“
„Aber Psssst … haltet bloß eure Klappen! Sonst muss ich am Ende noch zur Strafe bis in alle Ewigkeit den Abort des Alten putzen.“

Der Schankwirt lachte laut auf und klopfte seinem Schankgast extra stark auf die Schulter, während er hinter dem Rücken der beiden sehr offenherzigen Kompagnons zur Laterne hinauf schielte, die am Deckenbalken seiner Schankstube hing. Verwaschen murmelte er: „Ach, wenn es doch nur die Jungspunde wären …“

Und als er schließlich die Türen der Taverne hinter den beiden ältesten Wichteln des Nordpols schloss, kletterte ein Winzling von einem Mann eifrig aus der Laterne unter dem Deckenbalken und morste mit seinem Mondlicht eine eilige Depeche gen neunzigsten Breitengrad des Nordpolreiches, um sich seine Prämie und die Verlängerung der Ausschanklizenz seines Herbergsvaters um mindestens ein weiteres Jahrhundert bei der oberen Chefetage zu sichern.
„Hervorragende Arbeit, mein Großer!“ quickte er mit seiner hohen Stimme zum Schankwirt herüber. „Wir müssen mit dem Takt der Menschenzeit gehen. Sonst landen wir am Ende noch alle am Südpol bei den Pängus. Und wenn dann der Alte gänzlich senil wird, weil sich der Glauben der Menschheit an uns nach und nach überholt hat und sie unserer irgendwann überdrüssig werden, na dann Prost Mahlzeit! …“

 

Nachwort:

Es ist der Dreizehnte, acht Tage vor dem ehemaligen Julfest der nördlichsten Völker der nördlichen Hemisphäre, im Jahre Siebenundsiebzig des dritten Jahrtausens des ehemaligen Gottvaters der frühen Christenheit. Ich, der zu jener Zeit älteste unter den Wichteln meiner Generation sitze hier im Exil des Vergessens.
Von der ehemaligen Chefetage der Nordpolgenossenschaft in die Hemisphäre des Südpols verbannt, existiere ich nur noch als Schatten meiner selbst zusammen mit den wenigen übrig gebliebenen Pängus im Auffanglager der sich überlebten und insgesamt ad acta gelegten Sagen- und Mythen- sowie Märchen- und Fantasiegestalten.

Und nun sitze ich, der früher Chruschtschow genannt wurde – ein längst verwitweter Wichtel – hier in meiner Filterblase inmitten des Auffanglagers und schreibe an meinen Memoiren. In der Hoffnung, ein Mensch möge diese irgendwann finden, um mit ihrer Hilfe das wahre sich Erinnern wieder zu erlernen, um so vielleicht erneut einen Funken der Hoffnung unter die Reste der Menschheit sähen zu können.

Denn die letzte Heißperiode dieser Welt dauert noch immer an. Die Erde ist mit den verflossenen Jahrhunderten in extreme Zustände geraten, und die Menschheit hat sich dabei fast selbst ausgerottet. Wirtschaftsordnungen wie der Kapitalismus oder der Kommunismus und der Sozialismus haben sich überholt, so auch ihre damals verzweifelt angegangen Versuche der Neo-Wiedergeburten.
Es gibt keine Staatenstrukturen mehr und auch keine Demokratien oder gar Diktaturen und Monarchien.

Die wenigen noch übrig gebliebenen Menschen haben sich ihrer Urwurzeln besonnen und pflegen entweder nur noch kleine, untereinander zersiedelte Sippschaften oder ziehen als kriegerische Horden durch die Einöden dieser Welt.
Den alten Religionen haben sie mit der endlosen Reihe an vergangenen Jahrhunderten nacheinander abgeschworen. Und deren Götter haben sie längst vergessen.
Inzwischen glauben sie nur noch an die ehemaligen Glanzzeiten der vor sich hin rottenden Relikte einer ehemals hochtechnisierten Welt. Denn es geht im verwaisten Volksmund die Mär um, dass man diese Relikte zum Leben erwecken könnte, wenn man gewisse kryptische Symbole an den verwitternden Mauern zu Alt-York irgendwo auf einem der Nordkontinente entschlüsseln und die verlorengegangenen Aggregate wiederentdecken würde, um sie dann irgendwie erneut zum Leben zu erwecken.
Doch nur vereinzelte Ur-Ur-Ur-Ur-…-Urahnen der ehemaligen Ingenieure von damals glaubten noch ernsthaft an diese Mär und hüteten ihre indifferenten Vorausahnungen vom Wissen zu dieser Sache wie einen geheimen Gral vor der Allgemeinheit der Sippen und Horden. 

Ich selbst, Chruschtschow, weiß auch nur darüber Bescheid, weil ich mich jedes Jahr zum Julfest nachts aus dem besagten Auffanglager schleiche und die alte Tradition meiner ehemaligen Chefetage wieder aufleben lasse. Dann suche ich heimlich die nahegelegenen Lagerfeuer der vereinzelten Horden sowie die verfallen Kamine der alten Siedlungen, in denen die wenigen Sippschaften wieder hausen, heim und schaue den Ur-Ur-Ur-Ur-…-Urahnen beim Schlafen zu und höre ihre Träume.

 

© CRSK, LE, 10/2024