Send me your Love my Darling
Send me your Love my Darling
„Tick-Tack, die Zeit läuft“, sprach der Waldläuf und schaute Lynn verschmitzt an. Während die schwarzen Pupillen seiner Augen unaufhörlich wie zwei Pendel hin und her schwangen oder vielmehr wackelten und den Zeitbetrachter dabei ganz schwindelig machten.
Lynn blickte verdutzt drein. Ihm fehlten gefühlte Stunden seines Bewusstseins, als er auf die ihm fremde Ruhla-Uhr schaute, die ihm wohl irgendwer um sein linkes Handgelenk gebunden haben musste, während er weggetreten war.
Das letzte, woran er sich noch erinnern mochte, war die Tatsache, dass er sich vergangene Nacht nach getaner Arbeit spontan auf den Weg eines spätsommerlichen Spaziergangs gemacht hatte, um sich runterzuholen vom hektischen Lauf der Zeit und sich danach vielleicht noch – des entspannteren Einschlafen wegens – zu Hause leiblich und seelisch sowie moralisch lustvoll zu befriedigen.
Doch alles, was vor seinem Zusammentreffen mit dem Waldläuf war und nach seinem Logout aus dem Zeiterfassungssystem in der Firma, lag verschwommen im Nebel seiner Wahrnehmung.
Er musste Stunden ziellos durch die gewitterschwangere Sommernacht gelaufen sein, bevor er in die Nähe seines Zuhauses gekommen war. Stunden, damit jeder einzelne Schmerz der Arbeit mit jedem Schritt mehr und mehr von ihm abfallen konnte. Jeder Druck. Jedes eilige Abgehetzt-Sein. Und jede Not. Stunden, um sich wiederzufinden im Sein.
Stunden, um sich wieder langsam ins erschöpfte Wohlbefinden einzutakten und die Maloche des Förderbandes der Zielvorgaben hinter sich zu lassen.
Gefühlte Stunden, die er nicht gezählt hatte und die ihm nicht mehr erinnerlich präsent waren. Bis zu dem Zeitpunkt nicht mehr präsent, als er auf den Waldläuf getroffen war. Und das mitten in der Stadt?! Unmittelbar in seinem Kiez. Wo er sonst mit sich allein im Café eine Macha-Latte trinken ging, wenn er sich etwas gönnen wollte.
Und nun stand er völlig verdattert dem Waldläuf gegenüber und betrachtete fasziniert dessen klapprigen Drahtesel. Dessen Einrad-Fahrgestell war nämlich mit farbenfrohem Garn umhäkelt, und lauter bunte Franzen waren an die Felge des Rades geklebt und umwoben deren Speichen.
Während der Waldläuf das Einrad aus dem Stand heraus balancierte, grinste sein roter Mund sehr breit und zeigte dabei seine makellosen Zähne.
„Tick-Tack, die Zeit läuft“ sprach er noch einmal zu Lynn. Nur dieses Mal tat er es mit einer Patronenhülse zwischen den Zähnen. Woher diese so urplötzlich aufgetaucht war, konnte Lynn nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch ihm wurde sehr mulmig dabei zu mute.
„Du hast da was für mich“, fuhr der Waldläuf fort und wies dabei um sich herum auf die überall mit schwarzen Tüchern verhangenen Schaufenster der Straße.
Das war Lynn vorher gar nicht aufgefallen und er spürte in diesem Wissen, wie trocken seine Mundhöhle mit einem Male geworden war. Er wollte dem Waldläuf etwas entgegnen, doch er hörte nur das ausgedörrte Hüsteln seiner Kehle.
„Ich will die Briefe deines Herzens und die Postkarten, die von deinem Leben erzählen. Alle! Auch die, die du noch gar nicht geschrieben hast“, fuhr der Waldläuf fort.
Lynn schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet, als er völlig ausgepowert das Werksgelände verlassen hatte, um sich eigentlich auf dem direkten Wege nach Hause zu begeben.
Und nun stand er einem verwitterten Clown gegenüber, der eher an ein vertrocknetes Hutzelmännchen – mit Lumpen um den Leib gewickelt – erinnerte, als an ein stattliches und farbenfrohes Geschöpf der Großstadt-Zirkus-Welt.
Mit zittriger Stimme fragte Lynn schließlich: „Warum nennt man dich eigentlich den Waldläuf?“
Doch der Waldläuf ging überhaupt nicht darauf ein, sondern beugte sich von seinem Einrad herunter, um Lynn direkt in die Augen zu schauen. Seine Stimme klang wie der verwitterte Deckel eines Sarges, als er schlussendlich weitersprach: „Send me you! Send me your Love, my Darling!“
„Und alles, was ich für ein Stoßgebet gen Himmel benötige“, fügte Lynn flüsternd hinzu, bevor ihn der Waldläuf mit Haut und Haar verschlang und die Lippen seines inzwischen rot verschmierten Mundes die leere Patronenhülse aufs nasse Kopfsteinpflaster spuckten.
Der Parkwächter würde sie bei seinem nächsten Rundgang zur vollen Stunde finden und sich darüber wundern, warum jemand mittels diverser Punzen das Wort Freiheit in den Boden der Hülse graviert hatte.
© CRSK, LE, 09/2024