Kinder des Sturmes – Adaption II

Kinder des Sturmes – Adaption II

Kreatives Schreiben

Die Adaption II des Dokumentationsfilmes „Kinder des Sturmes“ erzählt eine „halb“ filktive und „halb“ autobiografische Geschichte aus der Sichtweise der Kinder (in diesem Falle des Bruders). Sie ist das Fazit einiger Erlebnisse diverser Überlebenden des 2. WKs (auch meiner eigenen Familie).

Kinder des Sturmes – Adaption II

*Aus der Sicht des Bruders*

„Schwester! Schwesterherz, wo bist du?“, rufe ich verzweifelt zwischen den Beinen vieler mir fremder Menschen hindurch. Ich bin hingefallen und sehe nur verschmutzte Hosenbeine, zerrissene Strümpfe, abgetragene Schuhe und zerschlissene Röcke. Und ich weine und rufe deinen Namen. Doch niemand hört mich und ich sehe nur Fremde um mich herum.
Auch meine Mutter kann ich in dem Gedränge nicht finden. Und auch sie antwortet nicht auf meine Rufe, stattdessen werde ich immer wieder und von anderen Flüchtenden angerempelt, weil diese hastig an mir vorbeieilen, um einen Platz im Zug hinaus in die Ungewissheit zu ergattern und mich in ihrer eigenen eiligen Not übersehen.
Ich weine, und ich rufe nach dir, meine Schwester und auch nach dir, Mama, und am Ende ist meine Stimme völlig heißer, mein Gesicht ganz rot erhitzt und tränenverschmiert. Und meine Augen sind geschwollen, als mich plötzlich ein Paar Hände zu fassen bekommen und nach oben heben. Hinauf an die Schulter eines nach Tabak und Knoblauch und Maschinenöl riechenden Soldaten, der mir auf Russisch etwas ins Ohr flüstert und dabei versucht, mich zu beruhigen.
Und schließlich heben mich diese Erwachsenenhände hinaus aus meinem sich nächtlich wiederholenden Traum an die Schulter der jungen Erzieherin, die ich hier im Heim so liebgewonnen habe. Sie ist die Einzige von den Erwachsenen, die wirklich nett zu uns verlorenen Heimkindern ist.

Täglich höre ich dich, liebe Schwester. In meinem Kopf. Und auch dich, liebe Mama. Obwohl ich langsam vergesse, wie ihr ausseht. Und ich kann euch nicht finden. Immer wenn ich durch die langen und kahlen Gänge im Heim gehe, wird mir kühl und wenn ich dann die Klinken der geschlossenen Türen herunterdrücke, sehe ich entweder fremde Gesichter oder die Tür öffnet sich nicht für mich, weil sie von jemand anderem verschlossen wurde und ich den Schlüssel dazu nicht habe.

Ich bin jetzt schon fast ein Jahr hier. In diesem Heim am Meer. Und immer noch kommen und gehen täglich Kinder. Kinder, die ich nicht kenne und doch kenne. Kinder, wie ich. Verlorene Kinder. Heimatlose Kinder. Suchende Kinder. Ob elternlos mag ich nicht sagen. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt.
Täglich wandere ich zum Strand und schaue den Wellen zu, wie sie kommen und gehen, wie sie Dinge an Land spülen und andere Dinge wieder mit sich fortnehmen. Ich beobachte diese Wellen und lasse sie meine Füße und Beine benetzen. Ich schaue ihnen zu, wie sie mir zu Füßen liegen, nur um sich im nächsten Augenblick in die weite Ferne am Horizont zurückzuziehen, bis ich die Schaumkronen und Wellenkämme im Dunst der verwischten Weite zwischen Wasser und Himmel nicht mehr ausmachen kann.
Und dann spüre ich die Sehnsucht in mir. Die Sehnsucht nach dir, meine Mutter, und dir, meine Schwester. Die Sehnsucht nach meiner Familie. Und die Sehnsucht nach einem zu Hause, dass es so nicht mehr gibt. Und ich fühle mich ruhelos und suche eine Hand, nach der ich greifen kann. Egal ob sie so groß ist wie die meine oder auch viel größer. Hauptsache ich habe etwas, woran ich mich festhalten kann. Hauptsache ich bin nicht allein und werde nicht vergessen. Hauptsache, da ist jemand, der sich um mich kümmert und der mich beschützt. Aber ich spüre nur meine eigene Hand, die in meiner Hosentasche steckt und mit den Muscheln vom Strand spielt, die ich heute gefunden habe.

In der Ferne ertönt wieder und wieder das Signal der alten Dampflok, und ich horche plötzlich auf. Die Nette unter den Erzieherinnen im Heim, die junge Große also, die mit den brünetten Locken, hat mich erst vor ein paar Tagen vertröstend getröstet, weil meine Mama mit meiner Schwester bisher nie im Zug gesessen ist, um mich abzuholen.
Dennoch merke ich beim lauten Ertönen der Dampfpfeife in der Ferne sofort auf und renne los, so als ob der Teufel hinter mir her sei und ich irgendetwas verpassen würde, wenn ich nicht zusehen bekäme, wie die alte Lock mit ihren Waggons voller Menschen im Schlepptau einfährt in den kleinen Bahnhof, um später dann mit deutlich anderer Passagierzusammensetzung in den Zugabteilen den Bahnhof wieder zu verlassen.

Mir schlägt das Herz bis zum Hals. In meinem Magen spüre ich das vertraut flaue Gefühl, so als ob ich demnächst eine übermenschlich schwierige Herausforderung zu meistern hätte. Und die Gedanken in meinem Kopf fahren besoffen Achterbahn, und immer, wenn sie einen Looping hinlegen, reißen sie die Weltherrschaft in mir und meinem allesumfassenden Sein an sich, um mir vor Augen zu führen, wie klein und nichtig ich doch bin.
So eile ich die letzten Meter bis zum Bahngleis und muss dabei aufpassen, dass ich nicht über meine eigenen Füße stolpere. Ich schwitze und zittere. Hitzewellen wechseln sich mit Kälteschauern ab, die mir von den Haarspitzen an bis zu den Fußsohlen durch meinen Körper wandern. Und meine ganze Welt schrumpft bis auf den alles beherrschenden Gedanken zusammen, dass dieses Mal meine Mutter hier ankommen könnte, um mich endlich, endlich wieder in die Arme zu nehmen und mich abzuholen und mit in ihr beziehungsweise mein neues zu Hause zunehmen …

Doch es ist so wie jedes Mal. Mit jedem Reisenden, der den Zug, der am Bahnsteig steht, verlässt, um schließlich mehr oder weniger mit seinen Lieben achtlos an mir vorbei zu schlendern oder manchmal auch vorüber zu eilen, werde ich aufgekratzter und angespannter und stelle mir traumwandlerisch vor, dass eben genau diese oder jene Person auf dem Bahnsteig, sich jederzeit in meine Mutter verwandeln könnten und es schließlich doch nicht tun, wenn sie unmittelbar an mir vorübergehen.

Das ist zum Verrücktwerden.

Schließlich liegt das Bahngleis fast menschenleer vor mir. Nur noch der Schaffner ist zu sehen. Die Waggontüren sind geschlossen. Das Signal der Dampflok ertönt, während fast die gesamte Lok samt dem ersten Wagen im Nebel des Wasserdampfes verschwindet, bevor der Zug in seiner Gänze mit Getöse anruckt und langsam auf dem Gleis gen Westen davonrollt.

Es riecht nach verbrannter Kohle, als ich dem Bahnhof mit gesenktem Kopf den Rücken zukehre und mich auf dem Weg zurück ins Heim mache, weil mich meine Lieblingserzieherin schon suchen gekommen ist …

 

© CRSK, LE, 04/2025

Angaben zum Bild:

Kinder des Sturms. KI-generiert mit Leoanard.ai und composed mit Affinity Publisher.

Kinder des Sturmes – Adaption II

Kinder des Sturmes – Adaption I

Kreatives Schreiben

Die Adaption I des Dokumentationsfilmes „Kinder des Sturmes“ erzählt eine „halb“ filktive und „halb“ autobiografische Geschichte aus der Sichtweise der Kinder (in diesem Falle der Schwester). Sie ist das Fazit einiger Erlebnisse diverser Überlebenden des 2. WKs (auch meiner eigenen Familie).

Kinder des Sturmes – Adaption I

*Aus der Sicht der Schwester*

Ich kann dir sagen, es ist klapperkalt draußen und der Wind pfeift um die letzte spindeldürre Strohpuppe auf den Äckern der Uckermark, die eher einem zerschlissenen hohlen Kreuz gleicht als einer Puppe, welche die hungernden vertriebenen Seelen der nun von uns verwaisten Landstriche aus dem Osten verscheuchen soll.
Meine Hände sind klamm vom letzten launischen Wettertreiben aus schweren Schneeflocken dieses nur langsam weichenden Winters. Nass bleiben sie in meinen zerstörten Haaren und meiner viel zu großen zerschlissenen Kutte hängen. Diese hat einmal meinem Vater gehört. Einem Mann, den ich kaum kenne, weil er im Herbst 1939 seinen Marschbefehl in den Krieg erhalten hatte.

Die zottelige Töle des ansässigen Bauern am Ortsrand dieser einen Kleinstadt in der Weite der Uckermark kläfft in einer Tour uns heimatlose Flüchtlinge an.

Ich bin eine von den vielen – nun Neubürger genannten – in diesem Landstrich, wie es inzwischen im offiziellen Sprachgebrauch der russischen Siegermacht heißt. Gerade mal acht Jahre alt. Meine Mutter steht – einer zerknüllt leeren Papiertüte gleich – neben mir und hält sich kraftlos an meiner Hand fest. Mit der Hand, die noch vor nicht allzu langer Zeit meinen dreieinhalbjährigen Bruder hätte festhalten sollen. Und doch auf dem Bahnhof von Konitz hatte loslassen müssen, weil ich sonst unter die Räder des am menschenüberfüllten Bahnsteig einfahrenden Zuges gedrückt worden wäre.
Ich bin ein kleines Mädchen, dass nicht weiß, wo ihr Bruder nun ist und ob dieser noch lebt. Ich bin ein Kind, dass sich schuldig fühlt, weil ihm die Großmutter immer ihre harten Brotkanten zugesteckt hatte, bevor es leider zu jung an Jahren mit ansehen musste, wie eben jene alte, gebrechliche Frau während eines Schneesturmes an Erschöpfung und Unterkühlung auf dem Pferdekarren einer anderen mitvertriebenen Familie verstarb. Ich bin ein Mädchen, dass mit anhören musste, wie ihre Mutter einen betrunken versprengten Soldaten an irgendeinem der zahllosen und überstürzt aufgegebenen Kontrollposten hatte über sich ergehen lassen müssen, nur damit sie und ihr Kind, sprich ich, am Ende hatten überleben können.

Ich nehme wahr, wie der ortsansässige Bauer den Hahn seiner alten Schrotflinte spannt und höre, wie sein Weib ihren Unmut darüber laut äußert, dass es uns, meine Mutter und mich und noch ein paar andere verlorene Seelen unseres ehemaligen Tracks aus dem Osten, am Ende als offizielle Umsiedler aus dem Flüchtlingslager auf ihren Hof verschlagen hat und wir ihnen von der nun sowjetischen Militärverwaltung der nahen Kreisstadt unterkunftstechnisch zugewiesen worden sind.

Ich habe Hunger. Und Hunger ist mein ständiger Begleiter. Doch das Feld am Wegesrand liegt unbestellt zu meinen Füßen, und die im vergangenen Herbst noch vom nun gefallenen Sohn des Bauern umgebrochene Erde ist nur teilweise vom nassen Schnee bedeckt.
Schwer sieht die Muttererde aus, wie kackbraune kleine bis mittelgroße Schollen, die sich nicht mehr unter dem letzten Schnee des zurückweichenden Winters verstecken können. Und ich male mir aus, wie es wohl wäre, jetzt eine Feldmaus zu sein, die in ihrem unterirdischen Nest immer noch den Winterschlaf hält, um das wiedererwachen des Lebens abzuwarten.

Meine Kinderseele ist wund, doch ich höre mich mit meiner zaghaften Stimme sagen, dass wir etwas von Landwirtschaft verstehen, vor nicht allzu langer Zeit selbst auf einem Gutshof im fernen Osten mitgearbeitet haben und für Essen und Unterkunft auf dem Hof des mürrischen Bauern helfen können. Meine Mutter nickt dazu bekräftigend mit ihrem Kopf, während die anderen zustimmend miteinander murmeln.

Das Weib des Bauern umfasst meine schmalen Schultern mit ihren schwieligen Händen und prüft schließlich meine Zähne, zerstöbert mein langes Haar und ertastet meine körperliche Statur unter der viel zu großen Kutte.
Ihr Gatte murrt unwirsch, als ihm der sowjetische Soldat mit dem Maschinengewehr vor der Brust von der offenen Ladefläche des LKWs herab im gebrochenen Kauderwelsch aus Deutsch und Russisch zu verstehen gibt, dass das ein unmissverständlicher Befehl von Seiten seines Vorgesetzten sei, damit der Hof in den Diensten der siegreichen Befreier und des zukünftig großen Bruderstaates weiterbetrieben werden könne, um die Soldaten auf dem nahegelegenen Militärstützpunkt fern der Heimat mit Essen zu versorgen.

Mein kleines Mädchenherz pocht mir bis zum Hals und ich kann das Maschinenöl an den Kleidern des Uniformierten riechen. Ich verstehe nur die Hälfte von dem was er sagt, doch ich begreife sehr wohl, dass er uns gerade auf mittelfristige Sicht, das Überleben gesichert hat.

 

© CRSK, LE, 04/2025

Angaben zum Bild:

Kinder des Sturms. KI-generiert mit Leoanard.ai und composed mit Affinity Publisher.