Hunger

Hunger

Kreatives Schreiben

Hunger ist die Vertextlichung eines Traumes, den ich heute morgen gehabt habe. Er erzählt von einem Gefühl meiner Kindertage.

Hunger

Lynn war wieder sieben Jahre alt und fühlte sich vor freudiger Erregung darüber, was er alles zu berichten hatte, fast so, als ob sich die Worte in ihm so wie früher in seiner Lisa bis zum Bersten angestaut und aufgeplustert hätten und nur darauf warteten seiner Lisa und dem Ruprecht, auf dessen Schoß er beziehungsweise sie wieder gesessen war, die Füße vollzukotzen.
Seiner Lisa war schon speiübel vom Hoppe-hoppe-Reiter-Spiel, dass der Ruprecht früher immer gern mit ihr gespielt hatte, wenn er in der Laune dazu gewesen war.

Und so kam es, wie es kommen musste.

Lynn redete und redete und erbrach dabei seine Worte im Überschwall der erregten Gefühle und bemerkte eben nicht, dass er nur nach der Aufmerksamkeit seiner (geistig) abwesenden Mutter gierte.
Ihm war schon gänzlich blümerant zumute, und sein Wortschwall wurde nun zunehmend von einem immer penetranter werdenden Schluckauf unterbrochen, so dass Lisa so bekotzt, wie sie sich fühlte, dazu nur meinte, dass die Mama an sie beide denken, aber im selben Augenblick den Ruprecht in Gedanken küssen würde.

Als dann am Ende das Hoppe-Hoppe-Reiter-Spiel auf Ruprechts Schoß in Lynns Traum immer wilder und wilder zu werden drohte, riss sein Redeschwall plötzlich ab und zerbrach die Wort- und Assoziationsketten seiner Gedanken in sinnlose Fett- und Magerworte oder auch in Fressmaschinen und mehr oder weniger nahrhafte Füllungen der Wortfetzen.

Schließlich weinte Lisa dem Ruprecht die Ohren voll, weil er ihr zu ruppig gewesen war und ihr dabei das Sonntagskleid zerknittert und beschmutzt hatte, dass sie zu diversen Anlässen immer anziehen musste, obwohl sie es damals gehasst hatte. Dabei wusste sie doch, dass Ruprecht nur ihr bestes wollte. So wie früher, wenn sie sich nach den Armen und den Ohren ihrer Mutter gesehnt hatte und dies nicht möglich gewesen war, weil sie eben anderweitig zu tun gehabt hatte und nicht anwesend gewesen war oder aber erschöpft im Bett gelegen und sich müde vom Leben geschlafen hatte.

Lynn rülpste. Luft hatte sich in seine Magengrube verirrt und weckte ihn nun mit dem Drang nach draußen auf. Es war sechs Uhr am Morgen. Er fühlte sich einsam, und die Nacht hatte ihn hungrig gemacht.

 

© CRSK, LE, 02/2025

Vor dem Aufwachen

Vor dem Aufwachen

Kreatives Schreiben

Vor dem Aufwachen ist ein Text über dem Gabmat. Ein Wesen, was Gaben frisst und und Menschen transformiert. Es ist Lynns Traum.

Vor dem Aufwachen

„Der Gabmat hat noch immer Hunger“, murmelte Lisa ihrem Lynn zu und runzelte die Stirn. „Und wenn du nicht aufpasst, frisst er dir am Ende noch die Haare vom Kopf“, fuhr sie leise fort. Er scheint mir, wie das Feuer in deinem Herzen zu sein, dass das Strandgut deines Lebens vertilgen will, um es schließlich der Asche zu übergeben.“
Lynn sagte nichts und versuchte mit seinen Blicken den Nebel zu durchdringen, der seit Tagen schon mal mehr und mal weniger die Stadt einwattiert hatte, so dass ihr Leben nur noch gedämpft zu ihm durchdrang.
„Und wenns doof läuft für dich“, sprach Lisa weiter, so als ob sie die Watte da draußen gar nicht wahrnahm, „dann macht dich der Gabmat naggisch. Naggisch an Leib und Seele. Naggisch im Herzen. Dann bist du irgendwann nur noch als suboptimaler Obstrahent in Obstanz unterwegs und gar nicht mehr als kontinentales Plus.“
Lynn konterte nicht, sondern schwieg weiter. Er schob dem Gabmat noch immer eine Gabe nach der anderen in den Schlund. Ohne Punkt und Komma.
Und Lisa prustete: „Ohne Puschi-Muh und Zuckerguss. Sonst ists vermutlich aus mit der Zuckermaus“
„Ja, ja, ich weiß“, zuckte Lynn mit seinen Schultern. „Dann ist es ebenso. Na und!? Es ist doch sowieso nur ein Traum, dessen Inhalte im nächsten Moment in Schall und Rauch aufgehen werden, oder?“

 

© CRSK, LE, 01/2025

Geburtstag

Geburtstag

Kreatives Schreiben

Der Text „Geburtstag“ berichtet von einem Traum, den Lynn schon als Kind gehabt hat. Einmal mit anderen Kindern, Freunden, Geburtstag feiern.

Geburtstag

Es war fünf Uhr in der Früh. Lynn schlief den Schlaf der Gerechten, und auch die Sonne war noch nicht aufgegangen. Lynn träumte gerade, dass er wieder acht Jahre alt sei und nun mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft durch das Ehebett seiner Eltern toben würde, und das wunderte ihn keineswegs.
Er hatte sich von seiner Familie als Geburtstagsgeschenk eine Party gewünscht, obwohl er in seinem bisherigen jungen Leben an diesen Tagen nie dagewesen war, weil er eben als Ferienkind geboren wurde und die Geburtstage normalerweise lieber bei seiner Großmutter am Meer verbrachte.
Doch heute sollte alles anders sein.
Lynn oder vielmehr seine Mutter hatte die Kinder aus der Nachbarschaft zu ihm nach Hause beordert und nun tobte er mit ihnen zusammen durch die Betten seiner Eltern, aß Kuchen und alberte unbeschwert herum.

Dabei fiel ihm irgendwann auf, dass die Luft über dem Ehebett seiner Eltern durch das Herumtollen zunehmend vom aufgewirbelten Staub geschwängert wurde und dieser schließlich in Flusen-Form, den Fallschirmen einer Pusteblume nicht unähnlich, im gesamten Zimmer herumschwirrte und irgendwann vom Sommerwind durch das weit offenstehende Fenster nach draußen getragen wurde.
Als Lynn dies bemerkte, wurde er plötzlich mux-mäuschen-still und fragte sich, was all die Kinder in der Wohnung seiner Eltern taten, denn er kannte nur eins von ihnen persönlich. Und das war eine Klassenkameradin von ihm, die älteste Tochter eines Arbeitskollegen seines Vaters. So jedenfalls hatte er es vernommen, als sein Vater kürzlich mit seiner Mutter am Abendbrottisch darüber debattiert hatte, warum ausgerechnet sein Sohn dieses Jahr in den großen Ferien nicht zu seiner Oma ans Meer wollte, sondern lieber in der brütenden Hitze der beengenden Kleinstadt verweilte.

Just in diesem Augenblick zupfte ihn die Tochter des Arbeitskollegen seines Vaters am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann spürte Lynn in seiner Bauchnabelgegend ein kribbelndes Gefühl und plötzlich wurde er mit all den anderen Kindern aus der Nachbarschaft von einer unsichtbaren Macht am Nabel seiner Kindheit fortgerissen.
Fort aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Fort aus dem trauten Heim. Fort aus der kleinen Stadt. Hin zum großen Meer. Zum weitläufigen Strand. In mitten des Rhythmus des Wellenrauschens hinein. Mitten hinein in die Freiheit des Abenteuers.
Auch dieses Mal wunderte er sich nicht darüber. Selbst die Fallschirme der ungezählten Flusen-Pusteblumen waren ihm gefolgt und sahen nun vollends nicht mehr wie der heimische Staub unter dem Bett seiner Eltern aus.

Lynn jauchzte vor Glück, denn er fühlte sich geborgen, obwohl ihm klar war, dass er im Wachzustand der Realität seines heranwachsenden Seins nie eine solcher Geburtstagsparty hatte ausgerichtet beziehungsweise ausrichten lassen. Denn dazu hatte es ihm im Kindes- und Jugend- und jungen Erwachsenenalter gänzlich an Freundschaften gemangelt.

Dann berührte schließlich irgendwer sanft seine nackten Schultern und strich mit sanfter Leichtigkeit darüber wie eine Daunenfeder. „Du musst aufstehen, Lynn. Du verpasst sonst noch deinen Zug“, summte ihm eine Stimme ins linke Ohr, schlug Windräder durch seine Gehirnwindungen und purzelte auf der anderen Seite seines Kopfes zum rechten Ohr wieder heraus.
Schläfrig erkannte er in ihr seine Seelenfreundin und lächelte. Es war der Tag der heiligen drei Könige. Er war längst erwachsen geworden und bald würde er sich wieder auf seinen Weg machen, …

 

© CRSK, LE, 01/2025

Bild: KI-generiert mit Leonardo.ai (Hintergrund & Junge in Einzelprompts), die „Fallschirmspringer“ stammen von Pixabay und composed wurde das Bild mit Affinity Publisher.

Der Traum

Der Traum

Kreatives Schreiben

Der Traum ist ein Text über einen Nacht-Traum, den Lynn neulich gehabt hat. Er träumte von der Transformation seines Daseins als Fisch.

Der Traum

„Wenn Jonas aus dem Wal sein Reisegefährt theoretisch hätte aufessen können, um sich endlich aus der Finsternis der Allmacht Gottes zu befreien, so kann ich mich auch gleich selbst verspeisen, um mich zu transformieren“, dachte Lynn, als er eines Nachts mit den großen Fischen im Wasser schwamm und den Mond anblubberte.
Währenddessen sah er sich selbst dabei zu, wie er tatkräftig damit begann, sein Unterbewusstsein vom Fischschwanz an Stück für Stück in nackte Gräten zu verwandeln. Denn die Zeit würde dies letzten Endes sowieso mit ihm anstellen, wenn sie fertig mit ihm gewesen wäre und es ihm nicht vorher gelingen wollte, sich in Liebe zu transformieren.
Dessen war er sich glasklar bewusst. So klar wie die Kloßbrühe seiner Mutter hätte jemals sein können, wenn ihr nicht vorher eben jene Klöße im Wasser auseinandergefallen wären und sich ins Unwohlgefallen einer Mehl-Plürre aufgelöst hätten.
Und dann erwachte Lynn, weil ihm seine Lisa einen nassen Waschlappen ins Gesicht geworfen hatte, und ihm am Ende ein Sonnenstrahl an der Nase kitzelte und er obendrein deshalb noch laut niesen musste.

 

© CRSK, LE, 01/2025

„Du Oarsch!

„Du Oarsch!

Kreatives Schreiben

Du Oarsch! ist ein emotionaler Text über psychische Nöte und Krisen. Lisa ist sauer und Lynn ist durch den Wind.

Kreatives Schreiben

Die Vertonung von Come on.

„Du Oarsch!

Du saubleeder Saupreiß due! Dia woasch i die Oahrwoaschln mit Chili und Knofi, wenn du dir noch oan Schritt vors Brett woagst! Des soag i diar und geb diar Brief und Siegel draaf. Du Depp!“, schimpfte Lisa lauthals mit sich selbst und knallte dabei mehrfach ihre immer wieder aufflammende Wut gegen Wände, Türen und Fenster des Hauses.
Nichts, aber auch wirklich gar nichts hatte sie dazu bewegen können, noch einmal ruhig auszuharren und die drohend befürchtete Misere auch weiterhin geduldig abzuwarten. Denn sie hatte die Nase im wahrsten Sinne des Wortes vor lauter Verschnupfung und Verkopfung gestrichen voll.
Seit Tagen schon träumte sie vom Bau der drohenden Klagemauer in Lynns Wahlheimatstadt und bekam schließlich gestern Morgen in aller herrgottsfrühe die fette Schlagzeile darüber brühwarm von ihrem und Lynns Händie serviert.
Die Klagemauer über ihre ewige Farce mit der gefühlten Endloswarterei auf Godot. Auf den Augenblick, der ihr sagen würde: Ja, es ist alles gut. Oder: Ja, es wird alles gut. Oder: Ja, es wird alles gut und wenn es noch nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende. Oder what ever for positive Thinking in dieser diesjährig nasskalten Weihnachtszeit.
Sie schlug mit der flachen Hand auf Lynns Küchentisch und brüllte: „Ich hob die Schnauzn voll! Miar egal, ob i heit oder moargn oder übermoargn Post bekomme. I mog nimma! I mog miar nimma den Oarsch aufreißn, damit am Ende irgndwer an mi denkt oda au ned.“

Lynn schluckte und knetete sich nervös die Hände. Er wusste um den Frust seiner Lisa und konnte die Heftigkeit darüber recht gut nachvollziehen. Schließlich ist er erst kürzlich selbst mit den Unwegsamkeiten seiner und ihrer Psyche Schlitten gefahren, als er im Norden unterwegs gewesen war, um die Unterlagen für seine weiteren Schritte der Transition zusammenzusammeln.  
Da war es ihm wie ein zwischenzeitlicher Serverausfall seinerseits vorgekommen, als ihm seine insgesamt überspannte Wahrnehmung plötzlich seine alten Urängste von damals suggerierte und ihm vorgaukelte, wieder im Wahn gefangen zu sein. Im Wahn darüber, nicht geliebt und verlacht zu werden, es verkackt zu haben und vertrackt zu sein. Im Wahn darüber, nicht akzeptiert und toleriert zu werden. Im Wahn, Angst vor der Angst haben zu müssen. Und im Wahn, sich nicht im Leben zurechtzufinden und gänzlich allein damit zu sein, keine Freunde zu haben und niemanden, der an seinem Leid teilhaben wollte. Und auch im Wahn darüber, alles falsch gemacht zu haben in seinem bisherigen Leben.

Lynns Puls galoppierte ihm davon, wenn er daran dachte, dass er auf dieser Reise den Teufel in sich gefühlt hatte, wie er ihm Hörner aufgesetzt, den Pferdefuß angezogen und den Rattenschwanz an Zweifeln hinter ihm hergezogen hatte, um ihn durch die Altstadt zu treiben und den Jüngern seiner Vergangenheit als hoffnungslosen Narr vorzuführen.
So sah er sich wieder und wieder rücklings auf der Spielzeugbahn des Christkindlmarktes vor Ort sitzen und nackt in der Seele quer über den Festplatz rattern. Damit auch ja niemand auf die Idee kommen könnte, ihn ernst zu nehmen in seiner Wahnhaftigkeit vom Heiland der milden Gaben, an denen man sich laben konnte, wenns einem Mal frierte und man das Leid des Zweifels gebierte.

Enttäuscht über sich selbst schloss Lynn schließlich die Augen und griff nach der Hand seiner Lisa. „Komm! Lass uns verschwinden und verwinden das Leid dieser Tage! Lass uns das Kämmerlein im geschmerzten Herzen verbinden und lass uns winden die Wunden mit bunter Farbe, so dass wir zumindest innen fröhlich sind.

© CRSK, Le, 12/2024

Send me your Love my Darling

Send me your Love my Darling

Kreatives Schreiben

Send me your Love, my Darling ist ein Text, der etwas düster daher kommt und indem es um das Phänomen Zeit geht. Mal vergeht sie rasendschnell und mal quälend langsam. Und immer wird sie als subjektiv empfunden, wenn man über sie spricht.

Send me your Love my Darling

„Tick-Tack, die Zeit läuft“, sprach der Waldläuf und schaute Lynn verschmitzt an. Während die schwarzen Pupillen seiner Augen unaufhörlich wie zwei Pendel hin und her schwangen oder vielmehr wackelten und den Zeitbetrachter dabei ganz schwindelig machten.
Lynn blickte verdutzt drein. Ihm fehlten gefühlte Stunden seines Bewusstseins, als er auf die ihm fremde Ruhla-Uhr schaute, die ihm wohl irgendwer um sein linkes Handgelenk gebunden haben musste, während er weggetreten war.
Das letzte, woran er sich noch erinnern mochte, war die Tatsache, dass er sich vergangene Nacht nach getaner Arbeit spontan auf den Weg eines spätsommerlichen Spaziergangs gemacht hatte, um sich runterzuholen vom hektischen Lauf der Zeit und sich danach vielleicht noch – des entspannteren Einschlafen wegens – zu Hause leiblich und seelisch sowie moralisch lustvoll zu befriedigen.
Doch alles, was vor seinem Zusammentreffen mit dem Waldläuf war und nach seinem Logout aus dem Zeiterfassungssystem in der Firma, lag verschwommen im Nebel seiner Wahrnehmung.

Er musste Stunden ziellos durch die gewitterschwangere Sommernacht gelaufen sein, bevor er in die Nähe seines Zuhauses gekommen war. Stunden, damit jeder einzelne Schmerz der Arbeit mit jedem Schritt mehr und mehr von ihm abfallen konnte. Jeder Druck. Jedes eilige Abgehetzt-Sein. Und jede Not. Stunden, um sich wiederzufinden im Sein.
Stunden, um sich wieder langsam ins erschöpfte Wohlbefinden einzutakten und die Maloche des Förderbandes der Zielvorgaben hinter sich zu lassen.
Gefühlte Stunden, die er nicht gezählt hatte und die ihm nicht mehr erinnerlich präsent waren. Bis zu dem Zeitpunkt nicht mehr präsent, als er auf den Waldläuf getroffen war. Und das mitten in der Stadt?! Unmittelbar in seinem Kiez. Wo er sonst mit sich allein im Café eine Macha-Latte trinken ging, wenn er sich etwas gönnen wollte.

Und nun stand er völlig verdattert dem Waldläuf gegenüber und betrachtete fasziniert dessen klapprigen Drahtesel. Dessen Einrad-Fahrgestell war nämlich mit farbenfrohem Garn umhäkelt, und lauter bunte Franzen waren an die Felge des Rades geklebt und umwoben deren Speichen.
Während der Waldläuf das Einrad aus dem Stand heraus balancierte, grinste sein roter Mund sehr breit und zeigte dabei seine makellosen Zähne.
„Tick-Tack, die Zeit läuft“ sprach er noch einmal zu Lynn. Nur dieses Mal tat er es mit einer Patronenhülse zwischen den Zähnen. Woher diese so urplötzlich aufgetaucht war, konnte Lynn nicht mit Bestimmtheit sagen. Doch ihm wurde sehr mulmig dabei zu mute.
„Du hast da was für mich“, fuhr der Waldläuf fort und wies dabei um sich herum auf die überall mit schwarzen Tüchern verhangenen Schaufenster der Straße.
Das war Lynn vorher gar nicht aufgefallen und er spürte in diesem Wissen, wie trocken seine Mundhöhle mit einem Male geworden war. Er wollte dem Waldläuf etwas entgegnen, doch er hörte nur das ausgedörrte Hüsteln seiner Kehle.

„Ich will die Briefe deines Herzens und die Postkarten, die von deinem Leben erzählen. Alle! Auch die, die du noch gar nicht geschrieben hast“, fuhr der Waldläuf fort.

Lynn schluckte. Damit hatte er nicht gerechnet, als er völlig ausgepowert das Werksgelände verlassen hatte, um sich eigentlich auf dem direkten Wege nach Hause zu begeben.
Und nun stand er einem verwitterten Clown gegenüber, der eher an ein vertrocknetes Hutzelmännchen – mit Lumpen um den Leib gewickelt – erinnerte, als an ein stattliches und farbenfrohes Geschöpf der Großstadt-Zirkus-Welt.

Mit zittriger Stimme fragte Lynn schließlich: „Warum nennt man dich eigentlich den Waldläuf?“
Doch der Waldläuf ging überhaupt nicht darauf ein, sondern beugte sich von seinem Einrad herunter, um Lynn direkt in die Augen zu schauen. Seine Stimme klang wie der verwitterte Deckel eines Sarges, als er schlussendlich weitersprach: „Send me you! Send me your Love, my Darling!“

„Und alles, was ich für ein Stoßgebet gen Himmel benötige“, fügte Lynn flüsternd hinzu, bevor ihn der Waldläuf mit Haut und Haar verschlang und die Lippen seines inzwischen rot verschmierten Mundes die leere Patronenhülse aufs nasse Kopfsteinpflaster spuckten.
Der Parkwächter würde sie bei seinem nächsten Rundgang zur vollen Stunde finden und sich darüber wundern, warum jemand mittels diverser Punzen das Wort Freiheit in den Boden der Hülse graviert hatte.

 

 © CRSK, LE, 09/2024