Geburtstag

Es war fünf Uhr in der Früh. Lynn schlief den Schlaf der Gerechten, und auch die Sonne war noch nicht aufgegangen. Lynn träumte gerade, dass er wieder acht Jahre alt sei und nun mit den anderen Kindern aus der Nachbarschaft durch das Ehebett seiner Eltern toben würde, und das wunderte ihn keineswegs.
Er hatte sich von seiner Familie als Geburtstagsgeschenk eine Party gewünscht, obwohl er in seinem bisherigen jungen Leben an diesen Tagen nie dagewesen war, weil er eben als Ferienkind geboren wurde und die Geburtstage normalerweise lieber bei seiner Großmutter am Meer verbrachte.
Doch heute sollte alles anders sein.
Lynn oder vielmehr seine Mutter hatte die Kinder aus der Nachbarschaft zu ihm nach Hause beordert und nun tobte er mit ihnen zusammen durch die Betten seiner Eltern, aß Kuchen und alberte unbeschwert herum.
Dabei fiel ihm irgendwann auf, dass die Luft über dem Ehebett seiner Eltern durch das Herumtollen zunehmend vom aufgewirbelten Staub geschwängert wurde und dieser schließlich in Flusen-Form, den Fallschirmen einer Pusteblume nicht unähnlich, im gesamten Zimmer herumschwirrte und irgendwann vom Sommerwind durch das weit offenstehende Fenster nach draußen getragen wurde.
Als Lynn dies bemerkte, wurde er plötzlich mux-mäuschen-still und fragte sich, was all die Kinder in der Wohnung seiner Eltern taten, denn er kannte nur eins von ihnen persönlich. Und das war eine Klassenkameradin von ihm, die älteste Tochter eines Arbeitskollegen seines Vaters. So jedenfalls hatte er es vernommen, als sein Vater kürzlich mit seiner Mutter am Abendbrottisch darüber debattiert hatte, warum ausgerechnet sein Sohn dieses Jahr in den großen Ferien nicht zu seiner Oma ans Meer wollte, sondern lieber in der brütenden Hitze der beengenden Kleinstadt verweilte.
Just in diesem Augenblick zupfte ihn die Tochter des Arbeitskollegen seines Vaters am Ärmel und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Dann spürte Lynn in seiner Bauchnabelgegend ein kribbelndes Gefühl und plötzlich wurde er mit all den anderen Kindern aus der Nachbarschaft von einer unsichtbaren Macht am Nabel seiner Kindheit fortgerissen.
Fort aus dem Schlafzimmer seiner Eltern. Fort aus dem trauten Heim. Fort aus der kleinen Stadt. Hin zum großen Meer. Zum weitläufigen Strand. In mitten des Rhythmus des Wellenrauschens hinein. Mitten hinein in die Freiheit des Abenteuers.
Auch dieses Mal wunderte er sich nicht darüber. Selbst die Fallschirme der ungezählten Flusen-Pusteblumen waren ihm gefolgt und sahen nun vollends nicht mehr wie der heimische Staub unter dem Bett seiner Eltern aus.
Lynn jauchzte vor Glück, denn er fühlte sich geborgen, obwohl ihm klar war, dass er im Wachzustand der Realität seines heranwachsenden Seins nie eine solcher Geburtstagsparty hatte ausgerichtet beziehungsweise ausrichten lassen. Denn dazu hatte es ihm im Kindes- und Jugend- und jungen Erwachsenenalter gänzlich an Freundschaften gemangelt.
Dann berührte schließlich irgendwer sanft seine nackten Schultern und strich mit sanfter Leichtigkeit darüber wie eine Daunenfeder. „Du musst aufstehen, Lynn. Du verpasst sonst noch deinen Zug“, summte ihm eine Stimme ins linke Ohr, schlug Windräder durch seine Gehirnwindungen und purzelte auf der anderen Seite seines Kopfes zum rechten Ohr wieder heraus.
Schläfrig erkannte er in ihr seine Seelenfreundin und lächelte. Es war der Tag der heiligen drei Könige. Er war längst erwachsen geworden und bald würde er sich wieder auf seinen Weg machen, …
© CRSK, LE, 01/2025
Bild: KI-generiert mit Leonardo.ai (Hintergrund & Junge in Einzelprompts), die „Fallschirmspringer“ stammen von Pixabay und composed wurde das Bild mit Affinity Publisher.