Im Spiegel
Es ist Sonntagvormittag. Nackt steht Lynn Lonely in der Mitte des Bades und blickt mit müden Augen in die Richtung des Spiegelschrankes, der an der Wand hängt. Er betrachtet sich in den Spiegeln der Türen. Sein unförmig aus dem Leim gegangener Körper wird von der Stasibeleuchtung der Badezimmer-Deckenlampe ausgeleuchtet und kundschaftet dabei jede Unebenheit und Unreinheit seiner Haut aus.
Niemand souffliert ihm ein, dass er nicht schön sei. Dennoch hört er just in diesem Augenblick des Sonntagvormittags seine innere Kritikerstimme ihm zuflüstern, dass er genau dies sei. Nicht schön. Und dass seine Beine ungezählte Besenreißer hätten und die Neigung zu Krampfadern und dass sich der Teint deren Haut zu den Füßen hin nicht von seiner besten Seite zeigen würde.
„Stimmt“, gestand sich Lynn Lonely selbst ein. „Und ich wiege derzeit mal wieder so viel wie die Altlasten auf den Schultern meiner längst vergangenen Kindertage. Und noch mehr. Mein Bauch ähnelt dem eines übermäßigen allabendlichen Biertrinkers und das obwohl ich schon lange gar keinen Alkohol mehr konsumiere“, dachte Lynn laut vor sich hin und sah die Erschöpfung in seinem Gesicht. „Er ist mittlerweile so behaart wie der des längst verstorbenen Mannes der ehemaligen Studienfreundin meiner Mutter“, fuhr er fort.
Sein innerer Kritiker kicherte: „Jeder Pickel für eine Ungereimtheit in deinem Sein! Jede rötliche Wundheit deiner Haut für einen verletzten Moment in deinem Leben. Jeder Besenreißer für eine Persona-non-Grata in deiner Vergangenheit! Jede Falte im Gesicht eine gewesene Gewalt im Wortsinn! Und jedes graue Haar eine sich sorgende Eitelkeit mehr!“
Und Lynn verzog das Gesicht und blickte säuerlich drein. „Bewertung! Bewertung! Bewertungen von innen und von außen.“, sprach er laut mit seinem Spiegelbild.
„Ja, ich weiß. Ich bin aus der Form meines Lebens gerutscht. Der Busen hängt und ist noch immer der einer Frau, zeigt aber schon die Behaarung eines männlichen Wesens. Ich weiß, was du mir sagen willst. Aber ich mag mich tatsächlich so. Mit all meiner Indifferenz und meiner mehr werdenden Körperbehaarung.“
„Auch wenn du Zweifel daran hast“, fuhr Lynn zu seinem Spiegelbild fort, „ob ich da nicht den Bock zum Gärtner meiner Wünsche und Träume mache. Doch ich fühle mich dennoch auf dem richtigen Weg und auch gut dabei.“
Er sah die Trauer in seinen Augen. Die Trauer über das Leid in seinem bisherigen Leben und die Trauer über all die vertanen Chancen. Dennoch lächelte er sein Bild im Spiegel an und nahm sich selbst dabei herzlich in den Arm.
© Le, 07/2024