Never change a running System?
„Darauf eine Schokolade“, dachte Lynn Lonely und griff, als er endlich das Regal im Discounter gefunden hatte, entnervt zu. Ihm zitterten die Knie und er fühlte sich geschwind ein wenig wie das atemlose Espenlaub nach einem gehörigen Spätfrühlings- oder schon fast Frühsommersturm, der dieser Tage doch recht kühl und auch sehr nass ausgefallen war.
„Never solltest du a running System changen“, stellte Lynn verzweifelt fest. “Denn danach läuft erstmal nix mehr so rund, wie man es eben gewohnt war“, maulte er am Ende. Gefühlte Stunden eierte er schon orientierungslos in den Gängen des kompletten neu- und umgestalteten Supermarktes herum und fand am Ende doch immer nur das, wonach er eigentlich gar nie-nicht gesucht hatte.
Fast ganze zwei Stunden hatte er heute für den Wocheneinkauf in seiner Diskounter-Filiale gebraucht, und dabei war er schier verzweifelt gewesen. Denn nichts war mehr so, wie es im vorherigen alten Geschäft gewesen ist. Das brachte ihn so sehr aus der Fassung, dass er nur das Allernötigste für die neue Woche einkaufte und sich an der Kasse sogar darüber freuen konnte. Schließlich hatte er in der Woche davor, aufgrund der zeitlich temporären Schließung seiner altgewohnten Filiale, notgedrungen bei der viel teureren Konkurrenz einkaufen müssen. Und das war ihm um einiges teurer und irgendwie auch voluminöser gekommen als der heutige Jungferngang in den umgebauten Räumlichkeiten.
Lynn war noch immer ganz zittrig zumute, als er am Schreibtisch saß und die weiße Schokolade mit den ganzen Wahlnüssen aufriss. Justament wunderte er sich nicht darüber, dass es Wahlnüsse waren und keine normalen Wallnüsse oder gar Haselnüsse. Und obendrein noch ganze und keine gehackten. Denn er hatte doch immer eine Wahl, bevor er sich ins nächste Abenteuer des Lebens stürzte. Zumindest bildete er sich darauf etwas ein.
Die Wahl der Qual des neuen Webseiten-Designs zum Beispiel und der Entscheidung darüber, wo und wann da seine Prioritäten lagen, dieses Design für seine Bedürfnisse anzupassen und wann er das Ganze in die Tat umsetzen wollte.
Ebenso hatte er die Wahl darüber, was er jetzt sofort in seinem System anders manifestieren wollte oder gar neu und in welchem Umfang dies geschehen sollte und was dann auch bis nach dem baldigen Besuch seiner Freundin warten konnte.
Denn es musste nicht immer alles gleich und sofort geschehen. Das zumindest bläute sich Lynn Lonely beim raschen Verzehr dieser weißen Schokolade ein und ergötzte sich darüber, wieviel Zucker er schon wieder zu sich nahm, um seine angespannten Nerven zu beruhigen und sich in gewisser Weise auch zu belohnen.
In seiner Erinnerung klangen dabei auch die Worte seines Noch-Therapeuten an. Die da meinten, dass mit einem essenssüchtigen Verhalten oft auch ein sozialer Mangel einhergehen kann. Und das machte Lynn wiederum traurig, obwohl er sich bei all seinem Wörk-Wörk gar nicht einsam fühlte, auch wenn er so ziemlich allein lebte.
Schließlich hatte er tatsächlich immer die Wahl der Wahlen und politisch Wählen war er neulich auch. Wenn auch nur per Briefwahl. So wie immer. Das ließ er sich schon gar nicht nehmen. Das hielt er für seine Bürgerpflicht.
So wie er es sich ebenso zur gefühlten ersten Pflicht gemacht hatte, zumindest seinen Spaßdingen immer oder manchmal auch nur sehr oft ziemlich zeitnah zu folgen. Auch wenn dies gelegentlich bedeutete, mehr Chaos in seine gewohnten Trampelpfade zu bringen als vielleicht objektiv betrachtet nötig gewesen wäre.
Heute Morgen zum Beispiel geschehen. „Aber es sind ja auch noch gute drei Wochen hin bis zum Besuch meiner Freundin“, beruhigte sich Lynn Lonely und schrieb noch einen weiteren Text. Denn er hielt sich heute für mitteilungsfreudiger als gewöhnlich. Und normal war in den Augen andere Leute gelegentlich schon viel Sprech- oder auch Schreibdurchfall. Manchmal aber auch viel zu viel.
© CRSK, LE, 06/2024