Rot

Rot

Kreatives Schreiben

Rot ist eine Geschichte über eine längst vergangene Begegnung aus Lynns / Lisas Vergangenheit. Eine Begegnung mit der Frau, die Hände aus Ton hat und mit dem roten Punkt darin Miniaturen zaubert.

Rot

Die Frau mit dem Punkt in ihren Händen saß Lynn gegenüber, am anderen Ende des Verhandlungstisches und formte Argumente mit der Geschäftigkeit ihrer Hände Arbeit. Denn diese waren aus Lehm beziehungsweise Ton und konnten gar nichts anderes tun, als dem Los ihrer eigenen Geschicklichkeit zu folgen.
Der Punkt, den diese Frau ihre Eigenheit nannte, war mit roter Farbe angemalt. Sie trug ihn überall mit sich herum. So als sei er ein Omen ihres Lebens. Die Farbe, der Lehm und der Ton bildeten für Lynn eine symbiotische Einigkeit, die er nicht mit Logik erklären konnte. Das faszinierte ihn sehr.
So sehr, dass er schon die ganze Woche darüber nachsinniert hatte und darin noch gar kein Komma oder gar ein punktuelles Ende gefunden hatte. Seine Gedanken kreisten sogar nachts um diese Person und ihre Ausdruckskraft in Rot. Denn er hatte erst kürzlich im Schlaf von ihr geträumt. Und sie sich nicht tagsüber erträumt, sondern tatsächlich eines Nachts … Oder vielleicht doch auch am Tage ihre Geschichte weitergestrickt? Wer weiß das schon immer so genau.

Doch nun stand Lynn am offenen Werkstor seiner Arbeitsstelle. Zu seinen Füßen drohte die Schwelle der Werkstatthalle durch das sekündlich steigende Regenwasser geflutet zu werden. Denn es tobte sich kurz vor dem Beginn seines Feierabends ein Gewitter über der Stadt aus. Und die wütendste Zelle dieses Wetters schien justament genau über seiner Arbeit abzuhängen. So dass sich Lynn fragte sich, wie er trockenen Fußes durch den ständig anwachsenden, knöchelflachen See vor der Werkshalle würde waten können, wo er doch gar keine Gummistiefel angehabt, geschweige denn welche besessen hatte.
Es herrschte ein wildes Diskutieren und Gestikulieren in der Werkstatt und nur wenige blieben dabei so tiefenentspannt wie die Frau mit dem roten Punkt in Lynns Kopf. Sie trichtere ihm beständig das Wissen ein, das ihm bestätigte, dass er als Lurch genau durch diese Wassermassen musste, wenn er ein Frosch werden wollte. Wobei Lynn Lonely den Status eines Märchenprinzess stets und ständig tunlichst zu vermeiden suchte und vorallem vor sich selbst und seinen auserwählten Weiblichkeiten abstritt.
Und so tat er genau das, was er tun musste, um später siegesgewiss nach Hause zu gelangen. Er behielt die Schuhe und Hosen in dieser Situation an und wagte den ersten Schritt ins knöcheltiefe Nass hinein. Sein Herz tat dabei einen Satz nach vorn, als Lynn spürte, wie warm sich der Gewitterregen auf seiner Haut anfühlte.
Auch jubilierte er still vor sich hin, weil er sich daran erinnerte, dass er beziehungsweise Lisa während seiner und ihrer Kindertage nie in Regenpfützen herumgeobert waren. Denn dafür waren er und sie damals einfach viel zu ängstlich, vorsichtig und introvertiert gewesen. Und nun zählte er fast achtundvierzig Lenze und durfte das endlich auch einmal erleben.

Um ihn herum stöhnte und schimpfte das Volk. Doch Lynn war vergnügt und freute sich still darüber, dass es das Leben so gut mit ihm meinte und darüber, dass es überhaupt Leben hieß, was er da gerade erfahren durfte. Er amüsierte sich auch über das unbeschreibliche Gefühl, kleine Bassins oder Aquarien an den Füßen zu tragen und in den eigenen Schuhen mit den Füßen voran im Wasser davon zu schwimmen.

Dann er sprach zu der Frau in seinem Kopf, die den roten Punkt in ihren Händen hielt: „Schau, mir wachsen Schwimmflossen zwischen den Zehen. Ist das nicht drollig?“
Doch die Frau sagte nichts. Sie schwieg und formte aus dem roten Ton ihres Punktes einen alten Mann, der einen Hut auf seinem Haupt trug und einer Herde Schafe um sich herum beaufsichtigte.
„Es fehlen nur noch die Hütehunde“, dachte Lynn und sah plötzlich seine kleine Lisa inmitten der Schafe auftauchen. Sie schien zwischen den ganzen Vliesen aus Ton und Lehm zu baden. Dazumal das Gewitter von oben die Arbeit der Frau mit dem Ton in ihren nun roten Händen ständig ad absurdum führte, so dass es von außen betrachtet fast wie ein kunstvoller Animationsfilm im Zeitraffer-Effekt wirkte.

„Lisa, meine kleine Lisa“, dachte Lynn wehmütig. Sie hatte diese Frau mit dem großen Punkt in ihren nun roten Händen damals nur flüchtig gekannt, obwohl sie Arbeitskolleginnen gewesen waren. Und Lynn nahm just in diesem Augenblick war, dass die Hände der Frau zu bluten begannen.
Blutend ob der Erinnerungen. Blutig ob der vielen Arbeit mit dem Ton. Und Verletzt ob der Tatsache, dass damals niemand diese Welt aus Lehm und Ton und den Terrakotta-Figuren wahrgenommen hatte. Niemand. Bis auf die Frau selbst. Die Frau, die mit ihrem Punkt ganze Miniaturwelten erschuf. Die Frau, die Lisa damals von der ewigen Kämpferin erzählte und ihr schließlich einen roten Schwesterpunkt vermachte.

Lynn wurde blümerant zumute. Er erinnerte sich nicht gern daran, obwohl er die Figuren aus Ton sehr gemocht hatte. Damals, als er noch Lisa gewesen war. Damals, als er noch nicht gewusst hatte, wie man diese roten Punkte wieder auflösen konnte. Selbst heute noch war er sich darüber größten Teils im Unklaren.
Und er betrachtete versonnen seinen Traum von der Frau mit den geschickten Händen. Wie sie Figur um Figur aus Ton und Lehm modellierte und am Ende mit roter Farbe anmalte. Nur bis zum Brennen kam es in seinen Erinnerungen nie. Denn der Regen war im Prinzip immer schneller als ihre geschickten Hände.

Lynn lachte laut auf. Und er verspürte heute, so wie damals, die Hysterie in sich.
Er fühlte, wie sich die Farbe Rot in ihm ausbreitete und am Ende sah er nur noch rot um sich herum. Auch bemerkte er, dass seine Füße sich im glitschigen Schlamm aus Lehm und Ton bewegten. Sie quatschten umeinander und miteinander und verbandelten sich mit dem Handwerk der Frau von damals. Sie verhandelten mit ihr über die Liebe und die Trauer und die Wut und den ganzen Rest dieser Welt und wurden ebenso rot wie der Punkt der Frau, den sie in ihren Händen mit sich trug.

Und dann fuhr Lynn innerlich hoch. Er hatte sich erschreckt, war er doch auf der Toilette sitzend eingeschlafen und hätte dabei fast das Gleichgewicht verloren.
Über die Frau mit ihren Miniaturen von Terrakotta-Figuren und dem roten Punkt in ihren Händen dachte er jedoch noch lange nach. Das fand Anklang in ihm. Und er frage sich, was das alles wohl zu bedeuten hatte? …

© CRSK, LE, 07/2024

System

System

Kreatives Schreiben

System ist ein poethisches Fragment, dass im ersten Teil versucht zu versprachlichen, was mein nicht-binär-sein bedeuten kann. Das Beitragsbild zum Text erzählt dazu auch Bände. Gleichzeitig geht es aber auch auszugsweise um die neuerliche Begegnung zweier einander zugeneigter Herzensmenschen.

System

„Wenn Sie ihn oder sie sehen, so nehmen Sie ihn oder sie als eigenständige Wesenseinheiten oder gar alle beide zugleich als Gegenpolige Einzelkämpfer oder eventuell auch beide als ein und dieselbe Silhouette eines Fixsterns im Gestirn einer einzigen Person wahr.
Dabei können Sie ganze Wagenladungen an Pistazien in die Richtung dieses Menschen schnipsen. Sie würden sowieso nie-nicht alle Facetten in ihm oder gar an ihr treffen und schon gar nicht als Elfmeterschütze oder auch Elfmeterschützin in die Annalen dieser Grata-Gratissima eingehen.
Denn hier herrscht der Hagelsturm im Balance-Akt zum Fliegenschiss an der Mauer. Und die Lauer weiß sehr wohl, wo sie die Dauer findet, mit der sie lasziv kokettieren kann.
Und wenn Sie mal ehrlich sind, so ist das Yin des Yangs und der Gang des Ganges und der Gin des Dschinns viel langweiliger als die Korrektur der Balance einer auf der Spitze stehenden Pyramide.“

„Oder?“

So schrieb Lynn seiner Lisa ins Tagebuch, als er melancholisch an die Waldlichtungen in den Augen der Kundalini dachte, der er neulich die Hand gereicht hatte, um ihren zarten Flaum auf den Wangen mit seinen harten Handinnenflächen zu fühlen und die Weichheit ihrer Fingerbeeren auf dem Rücken seiner Hände zu spüren.
Nichts würde er korrigieren wollen. Mit den Ohren hatte er sie wieder gesehen. Und mit dem Kopfhaar wieder gehört. Und mit den Augen erneut geschmeckt. Und mit dem Munde oh zärtlich ihre Zuneigung im Labsal seiner Seele abermals gefühlt.

Doch nun wartete der purpurrote Siebenpunkt auf ihn, um ihm die Junikäfer von neulich ins Haupthaar zu setzen. Damit diese ihn gen Himmel in die Nacht von dannen trugen.
Und so realisierte er, wie wichtig ihm seine Systematik der lancierten Herzen(sdinge) war. Und wie sehr diese seiner Achtsamkeit bedurfte. Denn zu Zeiten war dieses System durchaus störanfällig und stand mit wankenden Beinen auf buttrigem Untergrund.

 

© CRSK, LE, 07/2024

 

Überfahren

Überfahren

Kreatives Schreiben

Überfahren ist ein Text in dem es um Bedürfnisse geht und um das Kommunizieren dieser. Ob wir uns „Brüllend“ durch unsere Welt bewegen oder ob wir leise uns fortbewegen, ist eine Frage nach der Kompetenz, zum eigenen Dasein zu stehen, sich dafür einzusetzen, dafür einzutreten und sich selbst dabei gut wahrzunehmen.

Überfahren

„Die Liebe brüllt nicht!“, fuhr Lynn fort.
„Ach???“, raunzte Lisa zurück. „Das hat sich letzte Woche aber ganz anders angefühlt.“, fuhr sie fort und machte dabei einen entzückenden Schmollmund. Sie stand mitten im Regen und sah dabei einem begossenen Pudel nicht ganz unähnlich.
„Ja!“, fuhr Lynn auf. „Nur dass uns der Dicke August mit seinem: ständigen ‚Hior Kolläische, gommä mol mid! Üsch zeesch dior mol, wo däro Hammor hängd!‘ nicht gemocht, geschweige denn nett behandelt hat.“
Lisa verschränkte ihre Unterarme vor ihrer unsymmetrischen Weiblichkeit
„Der Dicke kann nur ‚Hü und Hott‘ und sich minütlich nach den Winden der eigenen Ausdünstungen drehen, sonst nix“, fuhr Lynn fort, ohne zu bemerken, dass Lisa auf stur geschaltet hatte. „Haste das etwa letzten Donnerstag, als wir alle aufm Baugrund waren, nicht bemerkt?“
Lynn zog die Stirn kraus, schirmte seine Augen mit der Kapuze vor dem Regen ab und ließ seine Blicke wandern. „Schau sie dir an, diese längst vergessenen Glücksritter mit ihren Burgfräuleins. Wie sie hier überall im Windschatten der Wanderdünen aus lauter alten Gedöns herumstehen und auf das Halali der Lebensgeister warten. Glaubst du etwa im Ernst daran, dass die noch mal rauskommen? Ich meine so richtig rauskommen. Aus sich selbst. Aus ihren teilweisen verfahrenen Situationen. Und aus ihrem ganz eigenen Hinterposemuckel mit dem garantiert ganz persönlich integrierten Intermezzo.“, philosophierte Lynn im Schweigen von Lisa.
Und Lisa schaute Lynn einfach nur an, während sie wie früher als Kleinkind an ihrem rechten Daumen nuckelte und etwas überfordert dreinblickte.
„Was denn, was denn, was denn? … Glaubst du etwa wirklich noch immer an Haus, Hof, Auto, Hund sowie Kind und Kegel? Willst du so etwa glücklich werden?“, versuchte Lynn seiner Lisa unbeholfen mit Worten die Schulter zu tätscheln.
Und etwas später fuhr er dann noch fort: „Na, na, … bleiben wir mal lieber realistisch. Dieser Zug dürfte längst abgefahren sein.“
Und dann heulte sich Lisa innerlich die Seele aus dem Leib. Der Dicke August hatte sie wenigstens mit Worten hin- und her geschupst und sie verbal spüren lassen, was er von ihr hielt. Doch Lynns Ansagen hingegen waren ihr meist viel zu reflektiert und auch zu hochgestochen.
Justament wollte sie genau das, was sie laut Lynn nicht tun sollte. Nämlich Brüllen. Ihren Frust laut aus sich herausschreien und dem Dicken August mal ihre Meinung geigen. So sehr hatte er sie mit seiner harschen Art überfahren gehabt, dass sie an dem besagten Donnerstag schier vergessen hatte, ihm mit der charmanten Freundlichkeit einer absolut tiefenentspannten Unmöglichkeit zu begegnen. Und genau das bereute sie nun. Denn die Schlagfertigkeiten fielen ihr in solchen Situationen immer erst hinterher ein.
Sie fühlte sich klein und ungeliebt und hätte eben, wie gesagt, sehr gern die Liste ihrer absoluten Lieblings-No-Gos aus sich herausgebrüllt. Eben, damit Mann sie überhaupt erstmal ernsthaft wahrnahm und nicht nur für plont oder gar zahnlos hielt.
Und Lynn Loneley lächelte sie wissend an: „Du weißt doch noch: Wer herumschreit, ist meist im Unrecht, oder?“
„Du bist doof!“, maulte Lisa ihren Lynn an, kniff dabei die Augen zusammen, während sie ihre Hände wie kleine Fächer aufspreizte und damit ihre Ohrmuscheln verdeckte und Lynn am Ende dieser Scharade die Zunge rausstreckte. Denn sie fühlte sich schlichtweg überfordert von seiner Gewandtheit.

© CRKSK, LE, 07/2024