wandersteine

Was man sich verdienen muss

„Wer ist Raul?“, fragte Paula den größten Hurensohn in ihrer Nachbarschaft. Dabei drehte sie sich wie ein Kreisel um die eigene Achse, bis ihr schwindelig wurde und sie – wie die Hure des Hurensohnes neulich – umkippte, der Länge nach in die Gosse fiel und sich dabei am Abwasser verschluckte.
Der Hurensohn murmelte unverständlich und richtete sich zur vollen Größe auf. Er reichte Paula, als sie im Dreck lag, gerade mal bis zur Spitze ihres linken Ohres. Und das stand nach ihrem Sturz wie das geknickte Segel ihres ausrangierten Dreimasters von ihrem Kopf ab und glühte in der Mittagssonne. Der Hurensohn wies mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf sie und ließ nebelige Zahlenkolonnen aus seinen Fingerspitzen wabern. Sie, die Spitzen, sahen allesamt aus wie die geschärften Kiele gezückter Schreibfedern, die darauf warteten, rote Zahlen zu notieren.

Paula atmete tief ein und aus und wiederum ein und wieder aus, bevor sie die Augenlider schloss und tief in ihren Hosentaschen nach dem Wanderstein suchte, den sie neulich zufällig in der Nähe ihres Lieblingsrastplatzes gefunden hatte. Dort, wo sie sich im Sommer immer ein Pistazieneis gönnte, wenn sie auf Tour war und alles und jeden um gelebte Liebe anpumpte.
Als sie schließlich den Wanderstein in den unergründlichen Tiefen ihrer Taschen gefunden hatte, umschloss sie diesen mit ihrer Hand, die stets und ständig von Herzen kam, wenn sie damit ihren Gläubigern einen grünen Haken an die Backe klebte. Paula spürte ein Brizzeln in ihrer Nackengegend. Die Haare standen ihr zu Berge, als sie bemerkte, was dieser Stein mit ihr vorhatte.

Der Hurensohn runzelte die Stirn und rollte seine Knopfaugen hin und her. Einerseits war er fasziniert von dem, was um Paula zu geschehen begann. Andererseits schreckte es ihn ab. Ihm schien es so, als würde in Paula ein schwarzes Loch erscheinen oder vielmehr als würde sie selbst zu diesem Loch werden, dass sich im Zentrum wie ein Strudel zu drehen begann und seine Zahlenkolonnen wie rote Tinte, die keine Kontur gewinnen konnte, in sich hineinsog und in der Schwärze des Zentrums auslosch.
Der Hurensohn begann ob dieses Paradoxon zu schwitzen. Er verknotete sich die Fingerspitzen, seiner Schreibhand, während die andere Paulas Schuldscheine zerriss und die Schnipsel auf den Gehweg klebte, um so seinem Vornamen die Buchstaben zu geben.

Als Paula mitbekam, was er da tat, rappelte sie sich auf und gewann wieder an Körperhaltung. Sie glaubte, das gute Herz im Hurensohn zu enthüllen und appellierte an seinen Respekt vor ihr. Er jedoch schwoll daraufhin an und schaute ihr in die Augen. Dann bemerkte er murmelnd: „Respekt ist etwas, was man sich verdienen muss“ und stapfte am Ende auf und davon.

© CRSK, Le, 02/2023

 

Reizende 8 Worte:

  • faszinieren,
  • Paradoxon,
  • zerrissen,
  • Körperhaltung,
  • Hure,
  • murmeln (flüstern)
  • enthüllen,
  • Respekt

 

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