racheengel

Eine Geschichte, die gar keine Geschichte ist

Tarschnu stand inmitten seiner Wohnung. Es roch nach abgestandenem Duftgedöns, denn das Räucherwerk und die Öllampe waren seit Tagen nicht mehr in Betrieb gewesen. Ein Schauer überzog Tarschnus Rückgrat und ließ ihn frösteln. Er durchschritt zögernd seine Räumlichkeiten und zündete die Kerzen eine nach der anderen an, bevor er seine Duftlampe und den Räucherstäbchenhalter befüllte. Es kam ihm so vor, als würde er im Schnelldurchlauf einige Monate in der Zeit zurückreisen, um das alte Jahr Revue passieren zu lassen. Und er fühlte wirklich das Werkstattleben in seiner Wohnung. „So ganz anders“, dachte er, „als bei meiner Familie“ Dabei strich er gedankenverloren über den Mosaikspiegel im Flur. Und er lächelte …

Als Tarschnu sich endlich niedersetzte, um weiter an seinem neuen Bild über die im Jahreskreis wirkenden Kräfte zu arbeiten, fühlte er sich wieder gänzlich im Vorort angekommen und registrierte bewusst, wie dicht die letzten Tage gewesen waren und sich in Summe wie eine gestopfte Gänseleber angefühlt hatten. So im Nachhinein betrachtet.
Plötzlich hatte er Zeit, sich zu besinnen, um mit sich selbst zur Ruhe zu kommen.
Plötzlich spürte er auch das In-sich-Zurückziehen anderer Menschen, die ihm in der letzten Zeit wichtig geworden waren.

Er fühlte einen nagenden Zweifel über die unabdingbaren Dynamiken im zwischenmenschlichen Dasein. Und er verstand plötzlich den Traum, den er auf der Rückfahrt im Auto seines Cousins Tomcheck gehabt hatte.

Tarschnu sah sich noch einmal vor einem Pulk aus laut schwatzenden und wild herumgestikulierenden Brotlaiben stehen und war in diesem Augenblick selbst eines von ihnen. Ein aufgebrachter Brotlaib, dass sein Maul weit aufreißt und mit den darin enthaltenen Wackersteinzähnen ordentlich hin und her wackelt, während seine ungezählten Trampelbeinchen wild durcheinander stampfen und keine bestimmte Richtung vorgeben.
An das in dem Traum Gesprochene erinnerte er sich nicht mehr. Aber er wusste noch zu gut, wie er sich gefühlt hatte. Nämlich aufbegehrend und gegen Windmühlen kämpfend, obwohl diese gar nicht dagewesen waren. Und das machte ihm in Summe zu schaffen …

Als Tarschnu den Racheengel, der, mit Abstand gefühlt, gar keiner mehr gewesen war, in seinem Bild des Jahreskreises zum Gehörnten ganz bewusst neu platziert hatte, wurde ihm bewusst, dass es nicht um Polarisierungen gehen sollte, sondern dass alles im Leben eine Einheit bildet und auch miteinander harmonisiert, wenn auch mitunter äußerst dynamisch.
Ihm war klar, dass die Brotlaibe seine Bedürfnisse darstellten, die ausgehungert nach klarer Sicherheit waren. Einer Sicherheit, die von ihm selbst ausgehen und aus seinem Inneren herauswachsen wollte, bevor er sich ernsthaft anderen Menschen eben nicht an den Hals warf. Oder aber vielleicht doch? Dessen war er sich zwischendrin nicht immer ganz sicher gewesen …

Als Tarschnu zum gefühlt zigsten Male sein Jahresradbild endspeicherte, hatten sich schließlich die Wikinger restlos durch sein Gehirn getrommelt und rückten mit ihrer Musik seine Synapsen zurecht. Und so begab es sich, dass er dem hungrigen Brotlaib, den er in sich trug, etwas zu essen und zu trinken überreichte.

© CRSK, LE, 12/2022

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