Hanno Flitsche stand schwankend und erschöpft unter dem Flüsterbogen der Haingasse seiner Heimatstadt aus Kindertagen und erbrach sich in einen der alten Blumenkübel aus verwittertem Terracotta, die vor der ehemaligen baufälligen Villa des Bürgermeisters von anno dazumal standen und flüsterte dem Alten etwas über die ehemalige Horch- und Gugg-Anlage gen Himmel zu.
Ja, sie funktionierte noch immer. Die Anlage, die damals so viel Leid über ihn und seine Holde gebracht hatte.
Selbst nach so vielen Jahren der Funkstille.
Und der vielen Wetterwechsel, in denen der damalige Bürgi-Würgi im Ort stets und ständig sein Fähnchen nach den Windfürzen der Parteibonzen gedreht hatte. So nannte Hanno seinen ehemaligen Schulfreund aus alter Zeit in Gedanken, selbst heute noch, wo er längst auf leid- und klagevollen Wegen das Zeitliche gesegnet hatte, wie er erst vor Stunden vom Wirt seiner Bleibe bei einem Ausflug an die Bar erfahren hatte.
Hanno Flitsche war nicht gut auf all das Gewesene zu sprechen. Denn er war erst vor wenigen Stunden mit dem Nachtzug aus Berlin über Leipzig angekommen, wo er das Theater seiner ehemals schönen Holden hautnah auf dem Alexanderplatz miterleben durfte und dafür am liebsten peinlich berührt im Boden versunken wäre.
Sie hatte ihn, so blau wie sie gewesen war, als eine elendige Pissflitsche beschimpft. Weil er sie damals im Stich gelassen und ihr Glück mit sich fortgenommen hatte. So hatte es ihr jedenfalls Hannos ehemaliger Jugendfreund über die vielen Jahre immer wieder eingeflüstert gehabt.
So dass sie Hanno bei dieser Wiederbegegnung vor aller dort anwesenden Passentenaugen grandios zu ihrer Schnecke gemacht hatte, damit er ihr auf allen Vieren hinterherkriechen würde und zaghaft ihre verletzte Notdurft aufsammeln und ihr hinterhertragen würde.
Alles im enttäuschten Schimmer des Hoffnungsfunkens, dass sie ihm nie gleichgültig gewesen war, dass sie ihm noch etwas bedeuten würde, weil er sie doch früher immer sprichwörtlich auf Händen getragen und ihr dabei den Boden unter ihren Füßen vergoldet hatte.
Doch das war nur der Abklatsch eines Schimmers aus der Vergangenheit ehemals junger und unbekümmerter Menschen gewesen. Zuviel Porzellan war damals zerschlagen worden, als Hannos früherer Jugendfreund sie beide mit der Hilfe der Horch- und Gugg-Gesellschaft auseinanderintrigiert und dafür gesorgt hatte, dass Hanno für fünf Jahre nach Bautzen gekommen war und irgendwann in den Westen freigekauft wurde. Während seine ehemalige schöne Holde damals einen Unfall mit einem der Mähdrescher der hiesigen Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft gehabt hatte und dessen Führer irgendwann ehelichte und ihm sechs Kinder gebar, weil er sich so pflichtbewusst nach dem Unglück um sie gekümmert hatte …
Hanno Flitsche bekam keine Luft mehr, als er am darauffolgenden Tag erneut auf dem verwaisten und verfallenen Bahnsteig seiner ehemaligen Kinderzeit stand und auf den Zug nach Nirgendwo wartete. Jetzt hätte er den Heißluftballon Marke Eigenbau von damals gut gebrauchen können. Und er verfluchte den Tag, an dem er seine Holde von damals auf Bleiben-wir-Freunde.de gesucht und gefunden hatte …
© CRSK, Le, 11/2022
8 Reizworte:
- Alexanderplatz
- blau
- Theater
- gleichgültig
- Notausgang
- zaghaft
- Pissflitsche
- grandios
P.S. Das Geschehen ist reine Fiktion, auch wenn es real anmutet. Ähnlichkeiten mit gewissen Örtlichkeiten sind allerdings bewusst so gewollt. Das Composing des Beitragsbildes stammt von mir, die Bildbestandteile von Pixabay, Wikimedia Common und aus meinem eigenen Bildarchiv.
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