„Ich wünschte, ich säße jetzt neben ihr unter der Trauerweide, würde ihr einen Tee aus der Thermoskanne einschenken und könnte mit ihr gemeinsam schweigen“, murmelte Malte in den Schal hinein, den er sich ins Gesicht gezogen hatte.
Er saß in einem Taxi gen Waldau und dachte darüber nach, wie er nachts in seinen Träumen sein Gehirn umgekrempelt hatte, um dessen Erinnerungen aus den deckenhohen Regalwänden seiner Gedächtnissäle zu holen, zu entstauben und aus- sowie umzusortieren und teilweise auch neuzuschreiben.
Draußen herrschte eine graue Einheitssuppe und der Nebel ließ sich nicht vertreiben. Doch niemand würde heute mit dem Gebläse loslaufen, um die Laubleichen des Vorjahres fort zu blasen. Denn es war der Tag der verlorenen Seelen.
Malte schloss die Augen. Ihm war wehmütig zumute. Und er fragte sich, was er in Waldau wollen wollte, ob er dort etwas suchen würde oder ob dort jemand auf ihn warten würde. Er wusste es nicht mehr. Dennoch fuhr der Taxifahrer weiter in diese Richtung und durchschnitt die Nebellandschaften – wie das Messer die weiche Butter.
Als sie nach Stunden der Fahrt endlich dort angekommen waren, wo Waldau nach den Schilderungen von Malte so ungefähr hätte liegen sollen, erwachte er aus seinem Dämmerschlaf. Das Taxi hatte inzwischen angehalten und stand auf einem schmalen Feldweg. Dieser machte vor einer Weide mit dem zu Boden hängendem Blätterschleier eine Biegung und verlor sich dann ganz allmählich im Gras.
Als Malte das Taxi verließ, lief ihm ein Schauer über den Rücken. Der Blättervorhang der Weide öffnete sich und unterhalb des Blätterdachs der Baumkrone stand ein Tischchen mit zwei Klapphockern. Niemand war zu sehen. Ein Stövchen befand sich auf dem kleinen Tisch und darauf stand eine Teekanne, aus der es dampfte. Irgendwer hatte zwei Teeschalen dazugestellt.
Als sich Malte erschöpft auf einen der beiden Hocker setzte, ging ein Raunen durch die Äste des Baumes. Noch immer war niemand weiter zu sehen. Malte schenkte sich etwas von dem Tee ein, umfasste mit klammen Händen die Teeschale, hob sie sich vor das Gesicht und nippte von dem dampfenden Gebräu.
Mit gesenkten Lidern dachte er: „Das ist der Nebel der Landschaft, durch die ich heute gefahren bin. Und dort in der linken Hälfte der Teeschale liegt das vergessene Waldau und rechts davon verläuft die lange, lange Straße. Doch wo ist sie, mit der ich so gern geschwiegen hätte?“ …
Die Trauerweide atmete und summte das Lied der Bäume. Ein Flirren verdichtete über dem zweiten Klapphocker auf der anderen Seite des Tischchens die Luft. Und obwohl die Sitzfläche leer blieb, hatte Malte das Gefühl nicht allein zu sein, und er lächelte.
Er nippte immer wieder an seinem Tee, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm der Weide und dämmerte ganz allmählich fort. Währenddessen flossen seine Gedanken in zarten Tautropfenketten hin zu den Wurzeln des Baumes und verwoben ihn peu à peu mit Seidenfäden, die ihn an den Stamm der Trauerweide banden.
Als Malte schließlich wiedererwachte, hatte ihn der Geist, der in dem Baum lebte, mit seinen Trieben und Wurzeln und Blättern infiltriert und zu einem Teil von sich selbst gemacht.
Malte, der nun nicht mehr Malte gewesen war, sondern ein Teil der Trauerweide, wollte schreien, doch es erklang nur das Lied der Bäume, und er spürte, wie sich jemand anderes an seinen Stamm anlehnte, etwas von dem Tee aus der dampfenden Kanne in das eine Schälchen goss, um daran zu nippen und mit ihm zusammen zu schweigen …
© CRK, Le, 10/2020